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Rätselhafte Umarmung

Rätselhafte Umarmung

Titel: Rätselhafte Umarmung
Autoren: Tami Hoag
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Kindern träumte. Jayne sehnte sich danach, verstanden und akzeptiert zu werden.
    »Das ist die Frage, die sich jeder von uns stellen sollte«, erklärte Jayne und erhob mahnend den schlanken Zeigefinger. »Sind wir auf der Suche nach dem wahren Glück, oder folgen wir nur dem Weg, den unsere Mitmenschen mit ihren Erwartungen uns vorgezeichnet haben?«
    »Müssen wir deshalb gleich philosophisch werden?« stöhnte Alaina und rieb sich mit den Fingern die pochenden Schläfen. »Ich hatte heute morgen noch keine Zeit für meine täglichen zehn Tassen Kaffee.«
    »Das ganze Leben ist Philosophie, Süße«, erklärte Jayne geduldig. Sie sprach in einem langsamen Singsang, der verriet, daß sie aus Kentucky stammte, und der sich während der vier Jahre im Norden von Indiana keinen Funken abgeschwächt hatte. Ihr feingeschnittenes Gesicht war so ernst, daß es fast wieder komisch wirkte. »Das ist eine kosmische Realität.«
    Alaina blinzelte. Schließlich stellte sie fest: »Um dich brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Du passt ausgezeichnet nach Kalifornien.«
    Jayne lächelte. »Danke.«
    Faith musste lachen. »Gib es auf, Alaina. Du kannst nicht gewinnen.«
    Alaina zuckte zusammen und riss die Hände hoch, als wollte sie Faith' Bemerkung abwehren. »Sag nicht so was. Ich verabscheue es zu verlieren.«
    »Anastasia«, verkündete Bryan laut. Er nickte so entschieden, daß die Quaste an seinem Barett zu tanzen begann. Jemand, der Bryan Hennessy nicht kannte und nicht wusste , wie sein Gehirn funktionierte, hätte mit diesem Wort nicht das geringste anfangen können, aber es war ihm klar, daß ihn seine Gefährtinnen sofort verstehen würden.
    Anastasia war ein kleiner Ort an der nordkalifornischen Steilküste, an dem sie zu viert im Frühjahr Urlaub gemacht hatten. Während sie den Wellen zugeschaut hatten, die sich an den Felsen brachen, hatten sie sich ausgemalt, gemeinsam an diesen Ort zu ziehen und hier ihre Träume wahr zu machen. Jaynes Traum war eine eigene Farm gewesen. Faith hatte sich ein Gasthaus mit Blick auf den Ozean gewünscht. Schließlich hatte sogar Alaina ihre geheime Sehnsucht, Bilder zu malen, gestanden. Bryan hatte die Rolle des örtlichen verrückten Wissenschaftlers übernehmen wollen.
    »Genau«, sagte Faith mit einem wehmütigen Lächeln. »Wir sollten alle nach Anastasia ziehen.«
    »Und dort bis an unser Lebensende glücklich sein.« Alaina klang keineswegs so sarkastisch, wie beabsichtigt, statt dessen klang sie sehnsüchtig.
    »Selbst wenn wir es nie dorthin schaffen, ist es ein schöner Traum«, meinte Jayne leise.
    Ein schöner Traum. Etwas, an dem sie sich festhalten konnten wie an ihren Erinnerungen an Notre-Dame und ihre Freunde. Warme, goldene Bilder, die sie in einer stillen Ecke ihres Herzens bewahren und von Zeit zu Zeit hervorholen konnten, wenn sie einsam oder traurig waren.
    Bryan schaltete noch einmal den Selbstauslöser ein, lief los und stellte sich hinter Faith auf. »Wer weiß?« murmelte er wie zu sich selbst. »Die Wege des Lebens sind verschlungen. Man kann nie wissen, wohin sie einen führen.«
    Und die Kamera summte und klickte und bannte die Furchtbaren Vier - mit sehnsüchtig lächelnden Gesichtern und Abschiedstränen in den Augen und einem Regenbogen am Himmel hinter ihnen - für alle Zeiten auf den Film.

Kapitel 1
    Anastasia, Kalifornien, heute
     
    »Kopf wie'n Boot. Augen rot. Jeder sieht doch, daß der tot ist. Hat jemand meinen leichenschänderischen Geist gesehen?« sang Bryan leise bei der Arbeit vor sich hin. Er hielt inne, stellte die Kamera auf und grinste breit in die Weitwinkellinse, als wollte er für ein Selbstporträt posieren. Dann schob er die altmodische, goldgerahmte Brille wieder auf der Nase nach oben, wanderte zum nächsten Gerät in seiner Ausrüstung weiter und begann wieder mit seiner angenehmen Tenorstimme zu singen.
    Geister. Sein Leben war voll davon. Er suchte sie und lebte mit ihnen. Manchmal wünschte er, er wäre selbst einer, dachte er düster und spürte, wie die aufgesetzte gute Laune schwand. Er arbeitete vor allem, um seine Depressionen loszuwerden. Zu seinem früheren beschwingten, zuversichtlichen Selbst zurückzufinden war anstrengender als jede physische Arbeit, die er in seinem Leben verrichtet hatte, musste er feststellen. Er straffte entschlossen die Schultern und überprüfte noch einmal seine fotografische Ausrüstung: erst die Videokamera auf ihrem Posten über der geschnitzten Eichentür, dann die strategisch
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