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Rätselhafte Umarmung

Rätselhafte Umarmung

Titel: Rätselhafte Umarmung
Autoren: Tami Hoag
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erwiesen. Allerdings hatte er seine Gabe so vernachlässigt, daß möglicherweise überall um ihn herum spirituelle Manifestationen waren, ohne daß er es merkte.
    Addie Lindquist behauptete, daß es einen Geist in ihrem Haus gab, daß sie sich regelmäßig mit ihm unterhielt. Vielleicht war behauptete nicht das richtige Wort, erklärte traf es besser. Addie war Sechsundsechzig, eigensinnig und duldete keinen Widerspruch. Natürlich sprach sie mit Wimsey, hatte sie Bryan erklärt, und ihre blauen Augen hatten ungeduldig gefunkelt. Sie konnte gar nicht verstehen, warum andere Leute es ungewöhnlich fanden, daß sie mit Wimsey sprach. Sie begriff nicht, daß bis jetzt niemand außer ihr Wimsey zu Gesicht bekommen hatte.
    Die Frage war, ob der Geist existierte oder nicht. Es gab Leute in Anastasia, die sich verschwommen daran erinnerten, daß frühere Besitzer von merkwürdigen Vorgängen in Drake House erzählt hatten, aber keiner konnte mit eigenen Erfahrungen aufwarten. Addie war in dieser Hinsicht die einzige, und bei Addie flogen seit geraumer Zeit die Tassen in hohem Bogen aus dem Schrank, wie Jaynes Ehemann es ausdrückte.
    Tatsächlich versuchte Addies Arzt schon seit Wochen, mit Ad-dies Tochter Rachel Lindquist Verbindung aufzunehmen, weil er ihr mitteilen wollte, in welcher Verfassung sich ihre Mutter befand. Ob die Frau reagieren würde oder nicht, war vollkommen offen. Bis vor kurzem hatte man in Anastasia nicht einmal gewusst, daß Addie eine Tochter hatte.
    Bryan dachte nur ungern daran, was mit Addie passieren würde. Doch er würde sich nicht einmischen. Er fand es einfach traurig, sonst nichts. Es sah nicht so aus, als würde es Rachel Lindquist interessieren, was aus ihrer Mutter würde. Addie würde wahrscheinlich weggebracht und vergessen werden; lebendig begraben würde sie in einem Pflegeheim dahinsiechen, wo sich Fremde um die Hülle ihres Körpers kümmern würden.
    »Ich könnte wirklich einen Preis fürs Schwarzsehen kriegen«, murmelte er, angewidert von sich selbst und seinen morbiden Gedanken.
    Dabei sah ihm dieser Pessimismus gar nicht ähnlich. Er war immer Optimist gewesen, hatte immer an Wunder und an einen Schatz am Ende des Regenbogens geglaubt. Außerdem täte er besser daran, über seinen Fall nachzudenken. Schließlich bestand die Möglichkeit, daß es sich bei Addies Wimsey tatsächlich um eine paranormale Störung handelte. Er wusste , daß Addie nichts geschehen würde, solange er im Drake House blieb, und er hatte nicht die Absicht, es so bald zu verlassen.
    Er zauberte eine Spielkarte aus seinem Ärmel hervor, ließ sie flink zwischen den Fingern seiner linken Hand hin und her wandern und nahm beiläufig Notiz von dem starken, einer Vorahnung ähnelnden Gefühl, das ihn unvermittelt überkam. Es war ein angenehmes Gefühl, beglückend und aufregend zugleich, wie ein schönes Versprechen. Die Wärme überschwemmte ihn und vertrieb die Kälte und die Schmerzen. Die Spannung wich aus den Muskeln in seinen breiten Schultern, und seine Lider sanken langsam herab, während er sich dem Gefühl hingab, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, woher es kam oder was es zu bedeuten hatte. Schließlich rutschte ihm die Brille von der Nase, der Kopf kippte auf die Brust, und die Spielkarte entglitt seinen Fingern.

Kapitel 2
    Der Schrei hätte Stahl durchbohren können.
    Bryan wurde aus dem Schlaf gerissen, und sein zusammengekauerter Körper schoss aus dem Versteck auf dem Treppenabsatz. Er handelte rein instinktiv. Er hatte keine Ahnung, wer oder was den Schrei ausgestoßen hatte. Er registrierte lediglich das Summen seiner Alarmanlage, das ihm verriet, daß unten in der Eingangshalle etwas war. Er war schon halb die Treppe hinunter, als der Blitz seiner Fotokamera ihn blendete. Ohne etwas zu sehen oder gar anhalten zu können, machte er einen großen Schritt ins Nichts.
    »Aaah!«
    Sein überraschter Aufschrei ging sogleich in ein Stöhnen über, als er wie eine lebende Lawine die restlichen Stufen hinunterpurzelte. Ein zweiter, unirdischer Schrei durchschnitt die Luft, als er mit einem dumpfen Schlag auf dem marmorgefliesten Boden auftraf und ächzend alle viere von sich streckte.
    Der Schrei klang so entschieden geisterhaft, dachte er aufgeregt, während er sich mühsam aufrichtete. Morgen wäre er garantiert von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät, aber die wären ein geringer Preis, falls er etwas auf Film oder Band festgehalten hatte. Er sah schon die Artikel in den
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