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Rächende Geister

Rächende Geister

Titel: Rächende Geister
Autoren: Agatha Christie
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bis ihr Widerstand erstarb…

23
    Zweiter Monat des Sommers – 17. Tag
     
    R enisenb saß im Eingang zur Felsenkammer und blickte traumverloren über den Nil.
    Sie dachte an Horis Worte über die Verderbnis, die von innen kam, und sie erkannte jetzt, dass er sie damals schon hatte vorbereiten wollen. Sie war so sicher, so blind gewesen…
    Nofret hatte kommen müssen, damit ihr die Augen aufgingen über ihre Familie.
    Ja, mit Nofrets Ankunft hing alles zusammen.
    Mit Nofret war der Tod gekommen…
    Und das Böse war noch immer mitten unter ihnen.
    Renisenb erschauerte und stand auf.
    Sie konnte nicht länger auf Hori warten. Die Sonne war im Begriff unterzugehen. Warum mochte er wohl nicht gekommen sein?
    Sie sah um sich und begann den Pfad ins Tal hinabzugehen.
    Ringsum herrschte Stille zu dieser Abendstunde. Was hatte Hori aufgehalten? Wenn er gekommen wäre, dann hätten sie wenigstens diese Stunde gemeinsam erleben können.
    Es blieben ihr nicht mehr viele solcher Stunden. Wenn sie erst Kamenis Frau war… Oh, aber sie liebte Kameni doch, den schönen jungen Mann mit dem lachenden Antlitz, und sie wollte ihn heiraten, weil sie selber es so wünschte, nicht weil ihre Familie es verfügt hatte.
    Hatte sie nicht einmal zu Hori gesagt, dass sie diesen Pfad in Nofrets Todesstunde allein hinuntergehen müsse? Einerlei, ob sie sich fürchtete oder nicht…
    Nun, sie tat es jetzt. Gerade zu dieser Stunde hatten sie und Satipy sich über Nofrets Leiche gebeugt. Und ungefähr zu dieser Stunde war Satipy ihrerseits den Pfad hinuntergegangen und hatte plötzlich zurückgeblickt – um ihrem Verhängnis ins Auge zu sehen.
    Gerade an dieser Stelle auch. Was hatte Satipy gehört, das sie veranlasst hatte, sich plötzlich umzublicken?
    Schritte?
    Schritte… aber Renisenb hörte ja jetzt Schritte hinter sich… Schritte, die ihr folgten.
    Ihr Herz klopfte angstvoll. Es stimmte also! Nofret befand sich hinter ihr, folgte ihr…
    Furcht ergriff sie, aber sie ging nicht langsamer. Sie eilte auch nicht weiter. Sie musste die Furcht überwinden, denn ihres Wissens hatte sie nichts zu bereuen…
    Sie beruhigte sich, nahm all den Mut zusammen, und dann wandte sie, weitergehend, den Kopf.
    Da empfand sie große Erleichterung. Yahmose folgte ihr. Kein Geist aus dem Totenreich, sondern ihr Bruder. Offenbar hatte er in der Opferkammer zu tun gehabt und sie verlassen, kurz nachdem Renisenb daran vorbeigekommen war.
    Mit einem kleinen frohen Aufschrei blieb sie stehen.
    »Oh, Yahmose, ich freue mich, dass du es bist.«
    Er kam schnell näher. Sie wollte gerade weitersprechen, wollte ihm von ihrer törichten Angst berichten, als die Worte auf ihren Lippen gefroren.
    Das war nicht der Yahmose, den sie kannte – der sanfte, freundliche Bruder. Seine Augen glänzten, und er fuhr sich mit der Zunge über den trockenen Mund. Die Hände, die er vor sich hielt, waren leicht gekrümmt, so dass seine Finger wie Krallen aussahen.
    Er blickte sie an, und der Ausdruck in seinen Augen war unmissverständlich. Es war der Ausdruck eines Menschen, der getötet hatte und abermals töten wollte. Sein Gesicht trug eine wollüstige Unbarmherzigkeit zur Schau, eine böse Befriedigung.
    Der unerbittliche Feind war Yahmose! Hinter der Maske des sanften, freundlichen Antlitzes – dies!
    Renisenb schrie auf – es war ein schwacher, hoffnungsloser Schrei.
    Der Tod nahte ihr. Mit Yahmoses Kraft konnte sie sich nicht messen. Hier, wo Nofret abgestürzt war, wo der Pfad sich verengte, hier musste auch sie zu Tode stürzen…
    »Yahmose!«
    Es war eine letzte flehentliche Bitte – in diesem Ausruf seines Namens lag die ganze Liebe, die sie immer für ihren ältesten Bruder gehegt hatte.
    Sie flehte umsonst. Yahmose stieß ein leises, unmenschliches, glückliches Lachen aus.
    Dann stürzte er vorwärts, und seine grausamen Hände krümmten sich, als ob es sie danach verlangte, sich um ihren Hals zu legen…
    Renisenb lehnte sich an die Felswand und streckte abwehrend die Arme aus in einem vergeblichen Versuch, ihn von sich abzuhalten. Letztes Entsetzen… der Tod…
    Und da hörte sie einen Laut, ein leises, melodiöses Schwirren… Etwas kam singend durch die Luft geflogen. Yahmose blieb jählings stehen, schwankte und fiel dann mit einem lauten Schrei bäuchlings zu ihren Füßen nieder. Benommen starrte sie auf den Federschaft eines Pfeils. Dann blickte sie hinab – dort unten stand Hori; er hielt den Bogen immer noch schussbereit.
    »Yahmose…
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