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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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nicht zu entwirren, hatte Utrecht gesagt. Vielleicht stimmte das. Vielleicht aber auch nicht. Wie intensiv hatte er es versucht? Und was war mit den Grundstückskäufen in Ungarn und Kroatien? Mit den Beziehungen zu Extremisten in Nachbarländern?
    Irgendwo muss man eben anfangen.
    Muss ich eben anfangen.
    Und so hatte sie das dritte und das vierte Glas Wein damit verbracht, ihre Notizen durchzusehen und neue Skizzen und Diagramme zu malen und an immer weiteren Stellen eingekringelte Fragezeichen einzuzeichnen.
    Eher was fürs Feuilleton , hatte Erlinger gesagt.
    Merle kicherte. Sie war angetrunken. Aber sie war auch entschlossen. Sie merkte, wie sich ihre Anspannung allmählich löste. Sie raffte die Decke zusammen, stand etwas unsicher auf und rief so laut sie konnte: »Das Recht auf ein verpfuschtes Leben ist unantastbar!«
    Dann ging sie ins Bett und schlief sofort ein.

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XIII
    Sanft drehte das Windspiel sich in der Brise, die vom Fluss herüberwehte, und das KlingKlang der Metallröhrchen mischte sich mit dem Gezeter der Spatzen, die sich um eine Weintraube balgten. Samson betrachtete die Blüten der Bougainvillea, die fast die gesamte Hauswand überwachsen hatte wie ein eingefrorener, dunkelgrün-violetter Wasserfall. Er ließ den Blick über die dickblättrigen Büsche schweifen, deren Namen er nicht kannte, über die Palmenstauden und die kleinen Olivenbäume, die in alte Olivenölkanister eingepflanzt worden waren, über den Aprikosenbaum, über den ganzen verwilderten Garten. Eine magere Katze huschte über die Fliesen vor seinen Füßen, überquerte die Terrasse, machte einen Satz und landete auf Sumayas Schoß. Beiläufig begann Sumaya, das Tier zu streicheln. Er sah zu, wie ihre schönen, zimtfarbenen Finger durch das Fell der Katze fuhren, hin und her, und sein Herz tat ihm weh, weil er noch einmal spürte, wie sehr er sie vermisst hatte. Es war warm, aber nicht mehr heiß, und das Licht des späten Nachmittags hatte die satten Farben zurückgebracht, die im gleißenden Licht des Tages nicht auseinanderzuhalten gewesen waren, sodass jetzt, endlich, alles so aussah, wie es aussehen sollte. Der Garten vor dem Haus von Fadia Latif auf der Nilinsel Zamalek war für Samson der friedlichste Ort seit Monaten.
    Es war seine Idee gewesen, nach Kairo zu fahren. Oder zumindest hatte er es als Erster gesagt, wahrscheinlich hätte Sumaya es sonst auch vorgeschlagen. Sie überlegten nicht lange, sondern buchten im Internet zwei Flüge ab Schönefeld und begannen sofort zu packen.
    »Ich freue mich, dass ihr da seid!«, hatte Fadia Latif sie von derTürschwelle der Stadtvilla aus begrüßt, während sie aus dem engen Taxi krabbelten. »Es ist schön, euch zu sehen.«
    Ihre Töchter standen in bunten Kleidchen neben ihr, eine rechts, eine links. Die beiden Mädchen schienen Sumaya wiederzuerkennen, jedenfalls sahen sie sie mit freudigen Augen an und lösten sich, als Sumaya nur noch drei oder vier Treppenstufen von ihnen entfernt war, von ihrer Mutter, um ihr in die Arme zu fallen. Sumaya, Fadia Latif, die Mädchen, er selbst, sie alle hatten gelacht, und er hatte gemerkt, wie sich in seiner Brust etwas löste.
    Das war am Mittag gewesen. Sie hatten seitdem gegessen, Tee getrunken, mit den Mädchen gespielt, einen Spaziergang durch Zamalek gemacht und geredet, ohne zu reden. Samson blickte zu Fadia Latif herüber, die in einem Korbsessel zwischen ihm und Sumaya saß, der so groß war, dass sie mit angezogenen Beinen darin Platz gefunden hatte. Sie trug ein einfaches, knöchellanges schwarzes Stoffkleid.
    »Gleich«, sagte Fadia Latif, »fängt die Dämmerung an. Ich mag den Ruf des Muezzins, der dann beginnt. Ich bin nicht so fromm, wie Lutfi es war. Aber der Gebetsruf bedeutet mir viel.«
    »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Sumaya.
    Fadia sah in Richtung Nil und nickte. »Wenn der Gebetsruf vorbei ist, würde ich euch gerne einige Dinge fragen.«
    Als es so weit war, rief sie beide Mädchen zu sich, strich ihnen über die Haare und die Wangen, und bat sie auf Arabisch, ins Haus zu gehen. Die große Tochter nickte, nahm die kleine bei der Hand, und sie liefen hinein.
    »Ich freue mich ehrlich, dass ihr hier seid. Aber ich glaube, dass ihr aus einem bestimmten Grund gekommen seid«, begann Fadia Latif. »Ich habe mich absichtlich nicht bei euch gemeldet in den letzten Wochen. Ich musste mich um die Mädchen kümmern, um mich selbst und darum, dass wir hier ankommen und ein wenig zur Ruhe kommen. Und ich wollte
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