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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer
Autoren: Andreas Gruber
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Eingang. Er schlüpfte in das Sakko, nahm den schweren Koffer vom Rücksitz und stieg die Treppe hinauf zu der massiven Eichentür. Psychiatrie und Psychotherapie Markkleeberg stand an der Tafel zu lesen. Früher hatten die Leute das Areal schlicht als »Landesirrenanstalt« bezeichnet. Heute nannte man es oft nur »Steinerne Glocke«, weil abends die Glocke aus der Kapelle bis zum Ufer des Cospudener Sees hinüberklang. Es wirkte unheimlich, wenn Nebel über dem Wasser lag, und tatsächlich gab es immer noch Menschen, die sich bekreuzigten, sobald die Glocke ertönte. Pulaski war nicht abergläubisch, dafür machte er seinen Job schon zu lange.
    Er betätigte die Klingel. Instinktiv griff er zum Hemdkragen, um die Krawatte zu richten. Doch er hatte sie heute Morgen nicht angelegt. Sie lag im Büro, und zu Hause besaß er keine. Falsch. Seine Frau hatte ihm mal einen Schlips geschenkt, doch der befand sich in irgendeiner Schublade, die er schon seit fünf Jahren nicht mehr geöffnet hatte. Er wusste nicht einmal mehr, wie die Krawatte aussah. Die Ärzte würden ihn auch ohne Schlips reinlassen. Bisher hatte ihn noch jeder empfangen - egal wo.
    Nach dem zweiten Läuten öffnete eine junge blonde Frau mit Hornbrille die Tür. Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an.
    Schließlich deutete sie auf das Schild mit den Öffnungszeiten. »Es tut mir leid, die Besuchszeiten sind dienstags erst ab zehn …«
    »Ich bin hier, um die Leiche zu sehen«, unterbrach Pulaski sie.
    Die Frau zuckte zusammen und musterte ihn skeptisch. Wen hatte sie erwartet? Manfred Krug? Eigentlich war Skepsis das Fachgebiet von Pulaski - aber das würden die Ärzte hinter diesen Mauern noch früh genug herausfinden.
    Da sie ihn nicht hereinbat, sondern sich vor der Tür umblickte, ob er jemanden mitgebracht hatte, zog Pulaski schließlich seinen Dienstausweis aus der Tasche und klappte das Lederetui auf.
    »Walter Pulaski, Kriminalpolizei Leipzig. Haben Sie einen starken Kaffee für mich?«
     
    6
     
    Der Kaffee schmeckte gar nicht so schlecht. Mit dem dampfenden Becher in der Hand folgte Pulaski der jungen Frau durch die Gänge der Anstalt.
    Ein Mann kam ihnen entgegen, Mitte dreißig, weißer Kittel, schwarzes Haar, Seitenscheitel und rahmenlose Brille. Sie stellten sich einander vor. Der Mann hieß Steidl, war zweifacher Doktor und Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie. Vielleicht noch etwas jung für diesen Posten, dachte Pulaski, aber mit den richtigen Beziehungen war alles möglich. Der Mediziner war ihm nicht von vornherein unsympathisch. Pulaski mochte bloß das aufdringliche Rasierwasser nicht. Außerdem war ihm aufgefallen, dass der Doppeldoktor darauf verzichtet hatte, ihm die Hand zu geben - und solche Kleinigkeiten genügten Pulaski, um sich ein Bild zu machen.
    »Wo sind Ihre Kollegen?«, fragte Steidl.
    »Welche Kollegen?«
    Steidl schnappte nach Luft. »Ich dachte, Sie würden den Todesfall untersuchen und …«
    Pulaski warf einen demonstrativen Blick an sich hinunter. Sah er etwa nicht so aus, als könnte er die Leiche untersuchen? »Es handelt sich doch um Selbstmord?«, vergewisserte er sich. Zumindest hatte der Anrufer das bei dem Telefonat mit der Kripo behauptet. »Falls das stimmt, sind wir mit den Formalitäten in einer Stunde fertig.«
    Und falls nicht…
    Jeder Gesichtszug und vor allem der Blick, mit dem Steidl ihn musterte, sprach Bände. Mittlerweile glaubte Pulaski sogar, dass der Mann seine Gedanken nicht einmal verbergen wollte. Ja, so einen alten, heruntergekommenen Knaben hatte die Kripo ihnen geschickt! Einen Mann, der wegen seiner Asthmaanfälle, die sich von Jahr zu Jahr verschlimmerten, knapp vor der Frühpensionierung stand und der deshalb im Kriminaldauerdienst nur noch Standardermittlungen übernahm: die üblichen Todesfälle, bei denen man nicht gleich mit Gerichtsmediziner, Kripofotograf und Spurensicherungsteam anrückte. Eine gewöhnliche Aktennotiz genügte, ein bisschen Bürokram - Fall abgeschlossen. Es sei denn, der Staatsanwalt entschied anders, dann wurden die Mordkommission oder das LKA hinzugezogen, aber das kam so gut wie nie vor. Die Gerichte wurden seit Jahren bis oben hin mit Arbeit zugemüllt. Für eine Irre, die Selbstmord begangen hatte, interessierten sich höchstens die Schmierblätter.
    »Wo ist die Leiche?«
    »In ihrem Zimmer.«
    »Wer hat sie entdeckt?«
    »Ich.«
    »Wann?«
    »Bei der Morgenvisite.«
    Das war ja wohl klar. »Und wann genau?«, fragte Pulaski. »Kurz vor sechs
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