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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer
Autoren: Andreas Gruber
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verstehe. Kein Wort von einem Alkoholproblem. Kein Anzeichen einer Depression.
    Und zwei Tage später dieser Abschiedsbrief.
    Die Wände kommen näher. Ich halte es in diesem Zimmer nicht mehr aus.
    Pulaski ließ seinen Koffer zuschnappen. »Kommen wir zum interessantesten Punkt.« Steidl sah ihn fragend an.
    »Woher hatte Natascha den Gin, die Spritze und die Flasche mit dem Schmerzmittel?«
     
    Sie verließen das Zimmer und Pulaski versiegelte den Raum mit einer Plombe, die er über den Türstock und das Schloss klebte. »Ist das notwendig?«
    Pulaski dachte an den Brief. »Im Moment schon. Warten wir ab, was wir noch finden.«
     
    8
     
    Mittlerweile erwachte die Anstalt zum Leben. Es war kurz vor acht Uhr morgens, und Pulaski brauchte dringend eine Zigarette. Aus den Zimmern drangen die ersten Stimmen, in den Gängen hallten das Klappern von Schuhen und das metallene Quietschen von Rollwägelchen wider. Es konnte sich nur noch um wenige Minuten handeln, bis sich herumgesprochen hatte, dass Natascha nicht wie sonst zum Frühstück in den Speiseraum kommen und zur anschließenden Morgenrunde erscheinen würde, weil sie mit einem halben Liter Gin und 1000 mg Paracetamol im Körper tot auf ihrem Bett lag … und mit einem Abschiedsbrief in ihrem Slip. An welcher Stelle hätte sie den Brief sonst verstecken sollen, um sicherzugehen, dass ihn nur der Leichenbeschauer, der Gerichtsmediziner oder ein Kripobeamter finden würde? Nur? Wer kam sonst noch in Frage?, dachte Pulaski.
    Er folgte dem Chefarzt zu einer Kammer mit der Aufschrift »Hausapotheke«. Die Tür war offen. Der fensterlose Raum bestand lediglich aus Regalen, einem Kühlschrank und versperrbaren Vitrinen, in denen sich Hunderte Ampullen, Salben und Medikamentenschachteln stapelten. In den offenen Schränken lagen Decken, Spritzen, Mullbinden, Pflasterpackungen und Fieberthermometer. In dem Raum stank es beklemmend nach Krankenhaus. Ein Geruch, den Pulaski seit dem Tod seiner Frau mehr hasste als alles andere auf der Welt.
    Neben der Medikamentenkammer lag das Schwesternzimmer. Soeben kam ein großer Mann mit dichtem Vollbart und buschigen Augenbrauen aus dem Raum. Er war etwa in Pulaskis Alter, Anfang fünfzig, und musste sich nicht vorstellen: Dr. Heinrich Wolf stand auf der Brusttasche seines Kittels. Steidl hatte den Ärztlichen Direktor bereits erwähnt - der darauf verzichtete, Pulaski die Hand zu geben. Pulaski hatte nichts anderes erwartet. Noch mehr als den Gestank von Medizin und Krankenhäusern hasste er Ärzte. Und dieser Dr. Wolf war ihm noch dazu sehr ähnlich. Nicht nur wegen der gelben Fingerkuppen, die ihn als starken Raucher verrieten. Seine Gesichtszüge waren ebenso alt, verbittert und zynisch wie die von Pulaski. Er musterte sie jeden Morgen beim Rasieren, wenn er sich fragte, wie lange er seinen Job noch ertrug. Kein Zweifel, sie heulten im selben Rudel. Er erkannte seinesgleichen auf den ersten Blick. Dagegen war der smarte Chefarzt so harmlos wie ein Damenrevolver mit nassem Zündhütchen.
    Soweit Pulaski wusste, hatte Dr. Wolf bei Natascha ein EKG gemacht, ihren Tod festgestellt, den Totenschein ausgestellt und die Kripo verständigt. Normalerweise übernahm das der nächstbeste Dorfarzt, doch in diesem Fall war das nicht notwendig gewesen. Nach dem Eindruck zu schließen, den Pulaski bisher gewonnen hatte, verfügte die Anstalt über mehr Ärzte, als ihm lieb war.
    Wieder dachte er an den Brief.
    Immer wieder sind es andere, die nachts zu mir kommen. Wer, Natascha? Die Ärzte?
    Pulaski betrat die Kammer. »Ist dieser Raum immer offen?«
    Wolf lehnte seine massige Gestalt an den Türstock und spähte ins Zimmer. »Die Vitrinen mit den Psychopharmaka und verschreibungspflichtigen Medikamenten sind versperrt. So lautet die Vorschrift.«
    Alles nach Vorschrift! Natürlich. Pulaskis Verstand sagte ihm jedoch, dass auch der Raum versperrt und nur während der Medikamentenausgabe offen sein sollte.
    »Wenn die Schwestern dringend Mullbinden brauchen, müssen sie rasch ans Depot kommen«, ergänzte Steidl. »Es ist nicht notwenig, diesen Raum auch noch zu verschließen.«
    »Nicht notwendig?« Pulaski ging ächzend in die Hocke. »Dann werfen Sie noch mal einen Blick in Zimmer siebenundzwanzig.« Mit welchen Idioten hatte er es hier zu tun?
    Pulaski schoss ein paar Fotos, dann schob er die Glasscherben auf dem Boden zur Seite und kniete sich vor die Vitrine. An den Rändern der zersplitterten Glasscheibe befanden sich blaue Stofffasern.
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