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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer
Autoren: Andreas Gruber
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Uhr früh.«
    »Was passiert um diese Zeit?«
    »Die Morgendosis der Medikamente wird ausgegeben.«
    »Übernehmen das nicht die Pfleger?«
    »Bei manchen Patienten mache ich das wegen der Mundkontrolle selbst.«
    Wenn das so weiterging, war er heute Abend noch hier. Dabei hatte sich bei dem Notruf alles nach einem Routinefall angehört. Andererseits war er es gewohnt, nicht mit offenen Armen empfangen zu werden. Niemand mochte Schnüffler im eigenen Haus.
    Pulaski nahm seinen Koffer und folgte dem Arzt durch das Gebäude, bis sie einen langen Korridor erreichten. Auf beiden Seiten bemerkte er eine Reihe von Türen.
    »Wer weiß noch von der Toten?«
    »Mein Ärztlicher Direktor, Doktor Wolf, und meine Assistentin Hanna … sonst niemand.«
    Hanna war die Blondine mit der Hornbrille, die ihn empfangen und ihm anschließend den Kaffee gebracht hatte.
    Pulaski nippte an dem Becher. Mein Ärztlicher Direktor, nicht unser Ärztlicher Direktor. Wieder so eine Kleinigkeit.
    »Wie lange sind Sie schon Chefarzt?«, fragte Pulaski.
    Steidl hielt inne. Die pechschwarzen Augenbrauen verengten sich. »Ist das wichtig?«
    Pulaski schüttelte den Kopf. »Unwichtig.« Er kannte die Antwort bereits. Der junge Schnösel schmiss die Abteilung seit höchstens vier oder fünf Monaten. Bestimmt erwähnte er bei jeder Cocktailparty mindestens fünfmal, dass er nun Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie war. Pulaski wusste, seine Vorurteile wurden mit zunehmendem Alter schlimmer. Seine Frau hatte ihn jedes Mal daran erinnert, wenn sie jemanden kennenlernten. Aber er sagte sich: besser eine vorgefasste Meinung als gar keine.
    Steidl hielt vor einer Tür mit der Nummer 27. Natascha Sommer stand auf dem Plastikschild an der Wand. Ein hübscher Name.
    Pulaski trat ein, während Steidl im Türrahmen stehen blieb. Auf den ersten Blick konnte Pulaski keine Einbruchspuren feststellen. Die aufgehende Sonne warf ihre Strahlen zwischen die Lamellen der Jalousie. Der Raum war lediglich so groß, dass ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit Stuhl und eine Waschgelegenheit hineinpassten. Pulaski fiel auf, dass kein Handtuch auf der Halterung hing. Eigentlich hatte er mit einem Sturz aus dem Fenster gerechnet, mit einem Mädchen, das an einem Gürtel aufgeknüpft am Heizungsrohr an der Decke baumelte, oder mit einem blutgetränkten Bettlaken und einer geöffneten Pulsader, in der noch eine rostige Büroklammer steckte … Doch nichts dergleichen war hier zu sehen.
    Natascha Sommer war nicht älter als neunzehn Jahre. Ein zartes Wesen mit kurzen, brünetten Haaren, burschikoser Frisur und einer mit Sommersprossen übersäten Stupsnase. Ihr hübsches Antlitz wies osteuropäische Gesichtszüge auf. Möglicherweise stammte sie aus Rumänien oder der Ukraine. Ihre Arme waren dünn, vermutlich wog sie nicht einmal vierzig Kilo.
    Die Kleine lag mit dem Rücken auf dem Bett - keine Würgemerkmale, keine Spuren von Erbrochenem -, beinahe friedlich. Wenn da nicht ihr Blick gewesen wäre. Dieser entsetzliche Blick!
    Pulaski betrachtete die Anstaltskleidung. Ein cremefarbenes Nachthemd mit blauen Punkten, das ihr gerade mal bis zu den Knien reichte. Der linke Ärmel war hochgerollt. In Nataschas Armbeuge steckte eine Nadel, daran hing eine 50 ml große Spritze, mit der man einen Gaul hätte ruhigstellen können. Ein sauber gesetzter Stich. Intravenös. Spuren von Blut befanden sich an der Unterseite und am Rand des Kolbens. Unter dem Bett lag eine Durchstichflasche. Leer bis auf den letzten Tropfen.
    An der Innenseite von Nataschas Handgelenken bemerkte Pulaski die ziemlich langen Narben eines Selbstmordversuchs, der bestimmt schon mehrere Jahre zurücklag. Manchmal verging viel Zeit, aber irgendwann war es so weit, und dann kam jede Hilfe zu spät.
    Pulaski stellte Koffer und Kaffeebecher auf den Tisch und ging ums Bett herum. Nataschas Pupillen waren noch nicht getrübt, sie war keinesfalls länger als zwei Stunden tot. Er schloss ihre Augenlider. »Hatte sie Angehörige?«
    »Nur ihren gesetzlich vorgesehenen Betreuer«, antwortete Steidl. »Sie kam bereits als Waisenkind zu uns.«
    »Wie lange ist Ihr Vorgänger eigentlich schon im Ruhestand?«, fragte Pulaski, ohne den Arzt anzusehen.
    »Seit vier Mon…« Steidl sprach den Satz nicht zu Ende. Vermutlich biss er sich gerade auf die Lippe.
    Pulaski grinste innerlich. Er zog sich Latexhandschuhe an und fischte die Flasche unter dem Bett hervor. 100 ml Perfalgan. Laut Aufkleber enthielt das Präparat 1000 mg der
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