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Racheblut

Racheblut

Titel: Racheblut
Autoren: S Kernick
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schien sie zum ersten Mal am heutigen Tag einen Augenblick zu genießen.
    Guy ließ sich nicht den Wind aus den Segeln nehmen. »Lombok ist mindestens genauso schön. Und natürlich viel wärmer. Wir überlegen schon, ob wir uns dort nicht ein Ferienhaus kaufen sollen.«
    »Ich weiß nicht, wie es euch geht«, sagte Nik und versuchte diplomatisch das Thema zu wechseln, »aber ich könnte jetzt ein anständig gezapftes Bier vertragen.«
    »Dem schließe ich mich ohne Vorbehalte an«, sagte Guy, der immer große Worte brauchte, wo einfache genügt hätten. »Gibt es hier irgendwo einen Pub?«
    »Ich fürchte, nein«, gab Ash zu. »Ich hab’s euch ja gesagt, die Lodge würde mitten im Nirgendwo liegen.«
    Guy wirkte angepisst. »Da hast du nicht gelogen.«
    Weiß Gott, was sie morgen anstellen sollten, dachte Ash. Oder am Sonntag. Eigentlich waren sie zum Wandern in diese abgelegene Gegend in Schottland gekommen, weil sie zu Universitätszeiten, sprich in grauer Vorzeit, ein paarmal zusammen gewandert waren. Doch wenn Ash jetzt an diese Wochenenden zurückdachte, war es schon damals weniger ums Wandern gegangen, sondern darum, in Pubs zu hocken, zu kiffen, zu saufen und belanglose Debatten zu führen. Sie und Nik hatten sich seitdem verändert. Inzwischen wussten sie solche Ausflüge in die Natur als das zu schätzen, was sie wirklich waren: dringend benötigte Auszeiten von der anstrengenden Routine des Londoner Alltags. Aber es war offensichtlich, dass Guy und Tracy überhaupt nicht so empfanden, wenngleich Tracy zumindest sich Mühe gab, ihrer Tour etwas abzugewinnen.
    »Was zum Teufel ist das?«, rief Nik plötzlich.
    Alle drehten sich zu ihm um und folgten seinem Blick. Zuerst konnte Ash nicht richtig erkennen, was er meinte, doch dann sah sie, wie jemand in vielleicht hundert Metern Entfernung durch das hohe Gras auf sie zugerannt kam. Offenbar war der- oder diejenige direkt hinter den Pinien hervorgelaufen, die über ihnen den Abhang säumten. Auf jeden Fall schien er oder sie es eilig zu haben.
    »Ist die nackt?«, entfuhr es Guy, und zum ersten Mal an diesem Tag klang er aufrichtig begeistert.
    »Himmel, ja!«, antwortete Nik. »Hoffentlich ist sie in Ordnung.«
    Das Mädchen war, wie alle vier gleich darauf sehen konnten, tatsächlich nackt und überdies jung, mit dem mageren, spillerigen Körper einer Pubertierenden und langen blonden Haaren. Sie raste förmlich auf das Quartett zu, und als sie ins Stolpern geriet, liefen ihr alle vier unwillkürlich entgegen.
    Erschöpft und so heftig keuchend, dass es ihr fast den Atem verschlug, rappelte Tara sich wieder auf und rannte weiter den Hügel hinunter. Die Menschen hatten Rucksäcke dabei und wirkten wie Wanderer. Die konnten ihr bestimmt helfen. Sie irgendwo hinbringen, wo es warm war, und ihr etwas zu essen geben. Was danach kam, war ihr egal. Sie wollte einfach nach Hause. Zurück zu ihrer Familie.
    Sie war ziemlich lange gerannt, hatte sich dabei ihre nackten Füße aufgerissen und sich lauter Striemen am Körper geholt, aber immerhin war von dem Wächter weit und breit nichts zu sehen. Als sie die Wanderer erreichte, fiel sie vor Erschöpfung auf die Knie. Tränen rannen ihr übers Gesicht.
    Sie konnte es fast nicht glauben, aber zum ersten Mal, seit sie in dieses verfluchte Land gekommen war, war sie tatsächlich frei.
    »Alles okay«, sagte Ash und kniete neben dem Mädchen nieder, das sich sofort ihrer Annäherung entzog. »Wir sind jetzt bei dir. Was ist passiert?«
    Zwischen ihren Schluchzern stammelte das Mädchen etwas in einer fremden Sprache, die osteuropäisch klang.
    »Ich glaube, sie ist Polin«, meinte Guy.
    »Was hast du denn?«, fragte Tracy und legte ihr den Arm um die Schulter.
    Das Mädchen zuckte zusammen.
    »Komm, lassen wir ihr mal etwas Raum«, sagte Ash. »Ganz offensichtlich hat sie eine schlimme Erfahrung hinter sich.«
    Sie trat einen Schritt zurück und bemerkte dabei die rote Abschürfung um den Knöchel. Wie von einer Kette. Nervös schaute Ash zu den Bäumen hinauf, sie fragte sich, was dem Mädchen dort oben zugestoßen sein mochte.
    »Sprichst du Englisch?«, fragte sie das Mädchen sanft und setzte ihr ganzes, als Grundschullehrerin erprobtes Repertoire ein, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen.
    Sie schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augen, fing aber plötzlich an, wild zu gestikulieren und hinter sich zu deuten.
    »Glaubt ihr, man hat sie vergewaltigt?«, fragte Guy.
    Tracy sah ihn missbilligend an.
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