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Racheakt

Racheakt

Titel: Racheakt
Autoren: F Steinhauer
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unangenehme Facette am anderen zu entdecken?«
    »Ja. Und Frau Dr. Jung war eine wirklich faszinierende Frau. Sie konnte intelligent argumentieren, war belesen und konnte, wenn sie wollte, auch charmant sein.«
    »Aber dass mir so gar nichts aufgefallen ist …«
    »Kennen Sie das Buch ›American Psycho‹? Nein? Schade. Der Täter in diesem Buch berichtet sogar ganz öffentlich von seinen unfassbar grausamen Morden und seinen brutalen Fantasien – aber es hört ihm keiner zu, seine Freunde nehmen ihn nicht ernst, halten alles für bloßes Geschwätz. So bleibt er unüberführt. Hätten Sie es denn geglaubt, wenn Frau Dr. Jung Ihnen erzählt hätte, sie habe diese Morde begangen?«
    Interessiert sah er den Ermittler an. Als Nachtigall langsam mit dem Kopf schüttelte, lächelte er nachsichtig.
    »Sie hat es mir gesagt. Schon ganz zu Beginn der Ermittlung. Sie wies mich darauf hin, dass der Täter auch sehr gut eine Frau sein könnte. Aber uns schien das unwahrscheinlich.«
    »Eben.«
    »Ich würde wirklich gerne verstehen, was sie zu diesen Morden getrieben hat.«
     
    Der Brief lag zusammengefaltet neben der Teekanne und Prof. Marburg reichte ihn an seinen Gesprächspartner weiter.
    »Der Brief ist kurz – die Geschichte dahinter länger. Sie möchte, dass ich Ihnen gegenüber alles offen lege. Vor einigen Jahren kam sie als Patientin zu mir. Mir scheint, auch ich habe hier Fehler gemacht. Die Therapie scheint nicht den gewünschten Erfolg gehabt zu haben. Also gut. Wussten Sie von ihrer Krebserkrankung?«
    »Nein.«
    »Als junge Frau – mit zwanzig – wurde Frau Dr. Jung die linke Brust amputiert. Eine Aufbauplastik war nicht möglich, offensichtlich hat ihr Arzt den Knoten nicht gleich richtig beurteilt und zu lange gewartet. Eine – nach ihren eigenen Worten – schrecklich entstellende Narbe zog sich über ihren Brustkorb. Sie litt lange unter unerträglichen Schmerzen, zog sich von allen Menschen zurück. Irgendwann beschloss sie ihr Studium wieder aufzunehmen. Studierte Psychologie und Medizin, begann sich für Straftäter zu interessieren. Vor einigen Jahren wurde sie meine Patientin.«
    »Sie haben eine Psychotherapie mit ihr gemacht?«
    »Ja. Ihre Schwester wurde vom Stiefvater jahrelang missbraucht. Von ihr wollte er nichts wissen. Sie war zu groß, zu knochig, zu wenig anschmiegsam. Sie beneidete ihre Schwester um ihre Rolle – zumindest, als sie noch Kinder waren. Die Schwester war begehrt, wurde ihr vorgezogen – während man ihr nur den Sport als eigenen Bereich zuwies. Dort war sie auch überaus erfolgreich. Sie konnte sich emotional nie von diesem Gefühl der Minderwertigkeit befreien, fühlte sich anderen Frauen unterlegen. Sie brach den Kontakt zu ihrer Familie ab und widmete sich fortan dem eigenen Fortkommen. Eine längere Beziehung zu einem Mann hatte sie nie.«
    »Die Männer hatten Angst vor ihr?«
    »Ja – und es gab auch nicht so viele, die größer waren als sie. Und mit kleinen Männern hatte sie ein Problem.«
     
    »Wie kam sie nur auf diese Idee, sie habe eine Mission?«
    »Möchten Sie es selbst lesen? Hier in diesem Brief an mich steht es drin. Kurz, knapp und schnörkellos – wie es ihre Art war. Ich möchte sie nicht verunsichern – aber in vielen Fällen benutzt der Täter die Mission nur als nachträgliche Rechtfertigung für seine Gräueltaten. Er verbrämt ein sehr persönliches, niederes Motiv mit einer Art heiligem Auftrag. So ist es für manche Täter leichter zu ertragen. Sie müssen sich nicht eingestehen aus Rache getötet zu haben – sie taten es in göttlichem Auftrag. Ob das hier zutrifft oder nicht, wage ich nicht zu beurteilen.«
    Nachtigall bemerkte, dass seine Finger zitterten, als er das Blatt Papier hochnahm.
     
    Lieber Prof. Marburg,
     
    Sie wissen ohnehin schon alle relevanten Dinge über mich. Bitte weihen Sie den Hauptkommissar in meine Geschichte ein. Ich wähle als Abschluss meiner Mission den Suizid, weil es mir einfach passend erscheint. Es ist meine freie Entscheidung und ich treffe sie in vollem Bewusstsein.
     
    Vor ein paar Wochen folgten mir Schritte. An einer dunklen Ecke holten sie mich ein und der Mann zerrte mich in ein Gebüsch. Er muss sehr sportlich und relativ groß gewesen sein, denn ich konnte mich nicht gegen ihn wehren. Er keuchte und setzte sich auf meine Hüften, in der einen Hand hielt er ein Messer – ein Schweizer Taschenmesser – und bedrohte mich damit. Mit einem Schnitt hatte er den BH durchtrennt. Als er sah, was
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