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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition)
Autoren: Marie Anhofer
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diesem grauenhaften Ort wegzukommen. Mit offenen Augen träumte ich vor mich hin. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn er mich eines Tages heimlich von hier wegbringen würde. In meiner aufkommenden Euphorie sah ich mich bereits weit weg von diesem Ort. In irgendeiner verlassenen Hütte, dort, wo mich niemand finden würde. Dort, wo ich in Frieden leben könnte und nie wieder solchen Ängsten und solch einer Folter ausgesetzt sein müsste. Andreas würde mich täglich besuchen und mich mit den notwendigsten Dingen versorgen. Was für eine schöne Vorstellung. Vielleicht könnte ich Andreas in Wirklichkeit sogar dazu bringen, mir diesen Wunsch zu erfüllen, dachte ich.
    Als ich am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, kam mir meine Pflegemutter mit verheulten Augen entgegen und schrie mich an: »Heute entkommst du nicht – du wirst reden!« Ich stand im Stiegenhaus völlig verwirrt, ahnungslos, stumm. Ich hatte null Ahnung, was sie damit meinte. Sie verwies mich in den Keller mit dem Vermerk, mich dort für meinen Pflegevater bereitzuhalten. Auffallend oft läutete an diesem Nachmittag das Telefon und das nahm ich zum Anlass, dass ich mich hinter die Kellertür stellte und bei einem der Gespräche lauschte. Was ich da hörte, versetzte mir einen derartigen Stich in meinem Herzen, dessen Schmerz mich beinahe zu zerstören drohte. Andreas fuhr, nachdem er mich zu Hause absetzte, nicht zu sich nach Hause sondern in ein angrenzendes Waldgebiet. Er fuhr mit seinem Fahrzeug tief in den Wald, präparierte das Auto mit einem Schlauch, leitete damit Auspuffgase in das Fahrzeug und nahm sich damit das Leben. Förster entdeckten ihn in den frühen Morgenstunden. Er ging, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Mir war sofort klar, dass das der Grund war, warum er am Abend davor so viel trank – er trank sich Mut an. Ich war die Letzte, die ihn lebend gesehen hatte und ich war die Letzte, die mit ihm sprach. Eine Welt drohte einzustürzen. Gerade Andreas, den Menschen, den ich so gern mochte und den ich mich am Vorabend anvertraut hatte. Der erste Mensch in meinem Leben, der mir geduldig zuhörte und nichts infrage stellte, was ich erzählte. Der Mensch, der mir wenige Stunden zuvor Trost spendete, nahm sich selbst das Leben. Hätte ich geahnt, dass er Trost nötiger gehabt hätte als ich, hätte ich ihm nichts von meinem Leid erzählt. Aber warum war es ihm so wichtig, gerade mich in seinen letzten Stunden neben sich sitzen zu haben? Wollte er womöglich sein Gewissen erleichtern, indem er mir »beichtete«, dass er von vielem wusste? Viele Jahre fühlte ich mich für seinen Freitod schuldig. Immer wieder fragte ich mich: Fühlte er sich nach meiner Geschichte handlungsunfähig und erdrückte ihm das Ganze womöglich? Hatte ich ihn durch mein Ausplaudern ein Stück mit in die Verzweiflung getrieben? Oder trug ich gar die gesamte Schuld an seinem freiwilligen Ausscheiden? Warum konnte ich nicht einfach still sein? Stattdessen war ich so rücksichstlos und belastete ihn mit meinen Problemen.
    Hätte ich Friederike nicht schon vorher gehasst, dann spätestens zu diesem Zeitpunkt, als sie kurz nach Andreas’ Tod mit einem neuen Mann an ihrer Seite angetanzt kam. Andreas war noch nicht lange unter der Erde und sie tat so, als wäre nichts passiert, das war für mich in keiner Weise nachvollziehbar. Ich denke auch heute noch sehr oft an Andreas. Wenn ich meine Augen verschließe, sehe ich uns sitzend an der Bar, ich sehe seine dunklen Augen und ich sehe seine braune, abgetragene Lederjacke. Es sind Erinnerungen an einen Menschen, der mir sehr viel bedeutete und der mir noch dazu das Gefühl gab, ein tolles Mädchen zu sein.

Das Zimmer

    Bis zu meinem achten Lebensjahr war ich in Sybilles Zimmer untergebracht. Das Zimmer war durchaus groß genug für zwei, aber Sybille begann sich irgendwann darüber zu beklagen, dass ich ihr lästig sei und sie meine Anwesenheit nicht mehr länger ertragen könnte. Das zweite Kinderzimmer gehörte Friederike und somit war für mich im Wohnbereich kein Platz mehr übrig. Meine Pflegeeltern beschlossen daher, mich in den Keller auszuquartieren. Ich erinnere mich noch gut daran, dass mein Pflegevater versuchte, mir den Raum im Keller so interessant wie möglich »zu verkaufen« und ich erinnere mich auch noch, dass ich mich anfangs sehr darüber freute, meine eigenen vier Wände zu haben. Nach diesem »Verkaufsgespräch« begann mein Pflegevater bald den für mich vorgesehen Raum im
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