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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
Autoren: Markus Kammer
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Tantaljes wurden kaum von Menschen bewohnt. Tiere gab es dafür umso mehr und die meisten von ihnen waren lebensgefährlich oder wären es gewesen, wenn sich Luvisa nicht so gut ausgekannt hätte. Seit sie denken konnte, wich sie den Spinnennetzen aus, kam den Vogelnestern nicht zu nahe, ging den angriffslustigen Wolfskatzen aus dem Weg und mied das Wasser, wenn es verdächtig blubberte.
    Das Dorf, in dem die Forschungsstation untergebracht war, stammte aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert Tantaljes. Über die Jahrtausende war es gewachsen und geschrumpft, vermodert, verbrannt und wieder erblüht, als wäre es selbst ein Baumlebewesen. Im weißen Dunst und dem Licht der zwei Sonnen, die gerade schienen, sah es aus, als könne es gleich zu Luft werden und sich auflösen. Luvisa stand im Gras und sah den blauen Blättern beim Fallen zu. Wie sie sich langsam drehten und dabei ihre Farbe veränderten, da Morgen und Abend gleichzeitig war.
    Ihre Mutter tauchte aus dem Nebel auf.
    „Komm schnell, Luvisa!“, rief sie. „Die Verhandlung ist früher zu Ende als erwartet!“
    „Na und? Sie werden doch sowieso freigesprochen.“
    „Los, hol deine Schwester!“, befahl ihre Mutter und lachte. „Du weißt, wie sie ist!“
    Ja, natürlich. Nautas Herz würde brechen, wenn sie auch nur eine Sekunde der Übertragung verpasste. Zumal sie bestimmt wieder einen Rückblick zeigen würden, den hundertsten in einer Woche, mit viel Rührung und Reden und Tränen und Großaufnahmen von Helden und wichtigen Leuten, die wichtige Dinge sagten, und anderen Leuten, die zuhörten und schrecklich beeindruckt waren. Hier, im tiefsten Inneren des urwüchsigen Tantalje war kein Krieg gewesen und alles, was sie überhaupt davon mitbekommen hatten, wussten sie nur aus den Nachrichten. Für Nauta waren diese Nachrichten das wahre Leben. Für Luvisa waren sie nichts als Geschichten. Das wahre Leben spielte sich tief im Wald ab, dort, wo keine Menschen waren.
    Doch Nautas Glück lag Luvisa am Herzen, daher beeilte sie sich und nahm die Abkürzung nach oben, die aus zehn Strickleitern bestand. Luvisa war gut im Klettern, trotzdem pochte ihr Herz von der Anstrengung, als sie hoch oben im Wohnbereich des Hauses ankam. Die Sonne schien durch die Luken auf den langen, schmalen Flur, der sich durch die oberen Stockwerke schlängelte. Luvisa rannte erst, blieb aber plötzlich stehen, als sie die alten Spiegelfenster erreichte, die aus dem vorletzten Jahrhundert stammten. Aus unerfindlichen Gründen starrte sie heute in die silbrigen Scheiben, als entdecke sie ihr Abbild darin zum allerersten Mal. Das elfjährige Mädchen, das zurückschaute, sah ungefähr so aus, wie es aussehen sollte: Es hatte lange, dunkelbraune Haare wie seine Mutter und ebenso braune Augen, die je nach Licht rötlich oder gelblich schimmerten, was Luvisas Vater gerne zum Anlass nahm, sie „meine kleine Dämaina“ zu nennen. Dämainas waren Zwergeulen mit funkelnden Augen, die Eichhörnchen durch einen Biss mit ihrem giftigen Schnabel lähmten und sie dann in den Baumkronen ins Licht dreier Sonnen hängten, um sie zwecks besserer Haltbarkeit auszudörren. Luvisas Haut war hell, doch glücklicherweise nicht weiß. Wenn sie in Eile war, so wie gerade, wurden ihre Wangen leicht rosig. Sie fasste kurz an den Spiegel, um zu sehen, ob es das andere Mädchen genauso machte. Als sich ihrer beider Zeigefinger trafen, war Luvisa beruhigt. Dann rannte sie weiter.
    Nauta war nicht in ihrem Zimmer. Luvisa überlegte, wo sie als nächstes suchen sollte, und fand bei der Gelegenheit neue Bilder an der Wand. Natürlich. Kein Tag verging, ohne dass Nauta ihr Zimmer den neuen Verhältnissen in Antolia anglich. Herbal Fors, der früher ihr Liebling gewesen war, musste mehr und mehr in die dunklen Ecken weichen. Der junge Star der alten Regierung hatte sich geweigert, der neuen Regierung beizutreten, wobei gemunkelt wurde, dass man ihn da auch gar nicht hatte haben wollen. Jedenfalls saß er jetzt im Rat am äußersten Rand und durfte als Mitglied einer Minderheit nur noch seine Meinung kundtun und nichts mehr entscheiden. Nautas Liebe für ihn hatte diesen Abstieg nicht überstanden. Stattdessen waren Legard Vorwear und der neue Antur unübersehbar in den Mittelpunkt gerückt. Auch Orzean Lima hatte ein gutes Plätzchen abgestaubt. Ihre Spezialität, sich eine Menge Haarspangen in eine einzige Haarsträhne zu knipsen, hatte Nauta schon übernommen. Gerade kam sie ins Zimmer und legte Luvisa
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