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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
Autoren: Markus Kammer
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Er hatte die schönsten Dinge für sie entstehen und vergehen lassen: bunte Wälder, klare Mondnächte, glitzernde Frostlandschaften, weiche Sommerwiesen und Täler voller Blumen in ihren Lieblingsfarben. Elsa traten die Tränen in die Augen, als sie daran dachte. Deswegen konnte sie jetzt nicht schlafen, sondern musste ihn sehen.
    Sie stellte sich der ersten Person, deren Umrisse sich im Nebel abzeichneten, in den Weg. Es war ein kräftiger Mann, der zwei Köpfe größer war als sie. Sie erkannte hauptsächlich seine Bartstoppeln, in denen sich Tropfen gebildet hatten von der feuchten Luft. Sie hatte kaum auf sich aufmerksam gemacht, da packte sie der Mann am Arm und wirbelte sie herum. Schon lag sein schwerer Arm auf ihren Schultern, er ging weiter, ohne jemals angehalten zu haben, und schleppte sie mit sich. Sie ließ das geschehen, ohne sich zu wehren, weil der Mann keinen feindseligen Eindruck machte. Wahrscheinlich hatte er zu viel getrunken und hielt sie für eins der Mädchen, die im Matrosenviertel ihr Geld mit Nettigkeiten verdienten.
    „Kennst du Nikodemia?“, schrie sie ihm ins Ohr.
    Der Nebel war so dicht, dass ihre Stimme darin zu verschwinden drohte.
    „Wer?“, fragte der Mann.
    „Niko! Er arbeitet im Umgekippten Eimer!“
    „Ach, der.“
    „Weißt du, wo er ist?“
    Er schüttelte den Kopf und zog sie noch ein bisschen fester an sich. Sie musste hüpfen, um nicht über das Pflaster zu stolpern.
    „Wohnt er hier irgendwo?“, brüllte sie.
    Er grummelte, räusperte sich und blieb stehen.
    „In den Mietshäusern wohnen viele. In den großen.“
    „Wo sind die?“
    „Willst du jetzt mitkommen oder nicht?“, fragte er aufgebracht.
    „Nein, ich will nicht mitkommen“, sagte sie. „Ich will zu den Mietshäusern, von denen du gesprochen hast.“
    Er sah sie unschlüssig an, gab ein komisches Geräusch von sich und zeigte hinter sich ins Weiß.
    „Immer da lang.“
    Dann machte er sich in die entgegengesetzte Richtung auf, ohne Elsa noch einmal anzusehen. Sie folgte seinem Hinweis, immer ins Nichts hinein, bis sie fast gegen ein Holztor stieß, das vor ihr auftauchte. Da weit und breit niemand zu sehen war, ging sie vor der Hauswand in die Hocke und wartete. Irgendwann musste ja jemand auftauchen, der hier wohnte.
    So ganz verstand sie nicht, was mit den Altjas los war. Sie waren sehr streng und konnten alles Mögliche. Sogar in die Zukunft schauen, wenn es stimmte, was Carlos gesagt hatte. Vor allem entschieden sie darüber, ob ein normaler Rabe etwas durfte oder nicht durfte. Wer gab ihnen dieses Recht? Das war eine Frage, die Nikodemia gerne gestellt hatte. Nur ein einziges Mal hatte er mehr darüber herausgefunden. Um es dann, gemeinsam mit Elsa, im nächsten Leben wieder zu vergessen.
    Seine Entdeckungen in jenem Leben waren abenteuerlich gewesen und führten dazu, dass ihn die Altjas zum Tode verurteilten. Er vermutete es zumindest, nachdem ihm mehrere Missgeschicke passiert waren – Unfälle, Stürze, ein Angriff durch wütende Hunde. Er überlebte all das, zu Elsas Erstaunen. Er war sich sicher, dass die Altjas dahintersteckten, weil sie sein Leben beenden und damit sein Wissen auslöschen wollten. Er sah keinen anderen Ausweg, als in den Zwischenraum zu fliehen. Als er von dort zurückkehrte, war er verrückt. Ob er es nur vorgab, verrückt zu sein, oder ob es wirklich der Fall war, das vermochte Elsa weder damals noch heute zu sagen. Er lebte nicht mehr lange. Was er aber herausgefunden hatte in diesem einen Leben, das war ungeheuerlich: nämlich dass er selbst auch einmal ein Altja gewesen war und zum Kreis der Hundert gehört hatte.
    Der Kreis der Hundert, das waren die Raben, die befugt waren, ihre Fähigkeiten einzusetzen und auszubilden: Altjas, die teilhatten am geheimen Wissen. Diejenigen, die die gewöhnlichen Raben lehrten und Gesetze für sie aufstellten. Vor sehr langer Zeit war einmal ein Altja aus dem Kreis der Hundert verbannt worden. Er hatte gegen grundsätzliche Regeln verstoßen und das Schicksal herausgefordert. Seither bestand der Kreis der Hundert nur noch aus neunundneunzig Raben. Doch ein Altja, der stirbt, behält einen Teil seiner besonderen Fähigkeiten bei. Um zu verhindern, dass Nikodemia wieder erstarkte und dem Kreis der Hundert – so hieß er noch immer – schadete, sorgten sie dafür, dass er seine folgenden Leben unter strengster Aufsicht in den ärmsten Rabensiedlungen zubrachte, die es gab. Sicherheitshalber gab man ihm eine Frau zur Seite, von
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