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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver
Autoren: Neal Stephenson
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für ihn zum unnatürlichen Typus zählen. »Er ist Mitglied der Royal Society!«
    O weh.
    Der Rektor macht einen Schritt nach vorn und krümmt wie ein Verschwörer die Schultern. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, das wusste ich nicht.«
    »Das macht nichts, wirklich.«
    »Dr. Waterhouse, müsst Ihr wissen, ist ganz und gar dem Zauber von Herrn Leibniz verfallen -«
    »- der sich des Kalküls von Sir Isaac bemächtigt hat -«, merkt irgendwer an.
    »Jawohl, und wie Leibniz vom metaphysischen Denken infiziert -«
    »- ein Rückfall in die Scholastik, Sir – ungeachtet dessen, dass Sir Isaac die alte Denkweise durch sehr klare Demonstrationen zu Fall gebracht hat -«
    »- und arbeitet mittlerweile wie ein Besessener an einem nach Leibniz’ Prinzipien konstruierten Apparat, von dem er sich einbildet, er werde mittels Berechnung neue Wahrheiten zu Tage fördern!«
    »Vielleicht ist unser Besucher gekommen, um ihm Leibniz’ Dämonen auszutreiben!«, mutmaßt ein schwer betrunkener Bursche.
    Enoch räuspert sich gereizt und löst damit ein kleines Quantum gelber Galle – den Saft des Zorns und der Verstimmung. Er sagt: »Man tut Dr. Leibniz Unrecht, wenn man ihn als bloßen Metaphysiker bezeichnet.«
    Diese Herausforderung ruft kurzes Schweigen hervor, dem ungeheure Belustigung und Ausgelassenheit folgt. Der Rektor lächelt dünn und nimmt Kampfstellung ein. »Ich kenne eine kleine Schänke am Harvard Square, einen passenden Ort, an dem ich den Herrn von allfälligen irrtümlichen Vorstellungen befreien könnte -«
    Das Angebot, sich vor einen Krug Bier zu setzen und diese Witzbolde zu erbauen, ist gefährlich verlockend. Aber das Ufer von Charlestown kommt näher, schon verkürzen die Sklaven ihre Ruderschläge, die Minerva zerrt kräftig an ihren Trossen, um nur ja mit der Flut mitzukommen, und er braucht Ergebnisse. Er würde das Ganze lieber diskret erledigen. Aber das ist nun, da Ben ihn demaskiert hat, unmöglich. Wichtiger ist jetzt, es rasch zu erledigen.
    Außerdem hat Enoch die Beherrschung verloren.
    Er zieht einen gefalteten und versiegelten Brief aus seiner Brusttasche und schwingt ihn regelrecht durch die Luft. Man borgt sich den Brief, mustert ihn – auf einer Seite steht »Doktor Waterhouse – Newtowne – Massachusetts« – und dreht ihn herum. Man wühlt Monokel aus samtgefütterten Taschen, zwecks wissenschaftlicher Untersuchung des Siegels: eines roten Wachsklumpens, so groß wie Bens Faust. Lippen bewegen sich und es kommt zu einem sonderbaren Gemurmel, während sich ausgedörrte Kehlen an der deutschen Sprache versuchen.
    Sämtlichen Professoren scheint es gleichzeitig aufzugehen. Sie fahren zurück, als handele es sich bei dem Brief um eine Probe weißen Phosphors, die plötzlich in Flammen aufgegangen ist. Der Rektor bleibt allein damit stehen. Mit einem geradezu verzweifelt flehenden Blick streckt er ihn Enoch dem Roten entgegen. Enoch bestraft ihn, indem er sich Zeit damit lässt, die Bürde entgegenzunehmen.
    » Bitte, mein Herr...«
    » Englisch reicht völlig aus«, sagt Enoch. »Ich ziehe es sogar vor.«
    An den Rändern der mit Mänteln und Kapuzen angetanen Schar sind gewisse kurzsichtige Fakultätsmitglieder außer sich vor Empörung darüber, dass sie das Siegel nicht haben lesen können. Ihre Kollegen murmeln ihnen Worte wie »Hannover« und »Ansbach« zu.
    Ein Mann zieht seinen Hut und verbeugt sich vor Enoch. Ein anderer tut es ihm nach.
    Sie haben noch keinen Fuß nach Charlestown gesetzt, und schon haben die Dozenten begonnen, Aufsehen zu erregen. Lastenträger und Überfahrtsuchende starren neugierig auf die sich nähernde Fähre, während ihnen, von ausladenden Armbewegungen begleitet, Rufe wie »Platz da!« entgegenschlagen. Die Fähre ist zu einer schwimmenden, mit schlechten Schauspielern überfüllten Bühne geworden. Enoch fragt sich, ob einer dieser Männer wirklich glaubt, die Kunde von ihrem Eifer werde tatsächlich an den Hof von Hannover gelangen und von ihrer künftigen Königin vernommen werden. Es ist makaber – sie verhalten sich, als wäre Königin Anne schon tot und begraben und das Haus Hannover hätte bereits den Thron inne.
    »Sir, wenn Ihr mir gesagt hättet, dass Ihr Daniel Waterhouse sucht, hätte ich Euch ohne Verzug zu ihm geführt – und ohne den ganzen Ärger.«
    » Es war mein Fehler, dir nicht zu vertrauen, Ben«, sagt Enoch.
    In der Tat. Im Nachhinein liegt es natürlich auf der Hand, dass jemandem wie Daniel in einer so kleinen Stadt ein Bursche
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