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Quellcode

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Titel: Quellcode
Autoren: William Gibson
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Browns IQ, der nach Milgrims Wahrnehmung nicht fürchterlich hoch war, und dem Grad an Autonomie, der sich in dieser Operation offenbarte, was sie auch bedeuten mochte, nagte weiter an Milgrim, durch die hart erkaufte Perspektive des Ativans hindurch, das er brauchte, um hier stehen bleiben zu können, ohne laut zu schreien.
    Brown befestigte die Wanze wieder unter der rostigen Basis des alten Kleiderständers, den Kopf gesenkt und ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Als er sich aufrichtete, sah Milgrim, wie er etwas Dunkles von der Querstange des Ständers herunter-stieß. Es fiel ohne einen Laut zu Boden. Als Brown ihm die Taschenlampe abnahm und den Strahl noch einmal über die Habseligkeiten des IF gleiten ließ, streckte Milgrim die Hand aus und berührte ein zweites dunkles Ding, das noch dahing. Kalte, nasse Wolle.
    Der grelle Schein von Browns Taschenlampe traf auf eine billig aussehende, kleine Vase aus perlmuttartigem, blauem Material, die neben einem der Lautsprecher stand, die zur Musikanlage des IF gehörten. Das intensive, blau-weiße Diodenlicht verlieh der lackierten Oberfläche der Vase eine unwirkliche Transparenz, als ob eine Art Verschmelzungsprozess darin stattfände. Als das Licht ausging, glaubte Milgrim, die Vase noch immer sehen zu können.
    »Raus hier!«, verkündete Brown.
    Draußen auf dem Gehweg, als sie zügig Richtung Lafayette gingen, kam Milgrim zu der Einsicht, dass das Stockholm-Syndrom ein Mythos sein musste. Das ging nun schon ein paar Wochen so und er identifizierte sich noch immer nicht mit Brown.
    Kein bisschen.

4. LOKATIVKUNST
    An die Lobby im Standard schloss sich ein rund um die Uhr geöffnetes Restaurant an – ein lang gestreckter Raum, Glasfron-ten, große Sitznischen mit matt schwarzen, bulligen Lederpolstern und dazwischen als Akzente die gerippten Phalli von einem halben Dutzend San-Pedro-Kakteen.
    Hollis sah zu, wie Alberto seinen Pendelton-Körper auf die Sitzbank ihr gegenüber schob. Odile saß zwischen Alberto und dem Fenster.
    »Sie-ber-spass«, formulierte Odile kryptisch. »Er kehrt sich um.«
    »Umgekehrt? Was denn?«
    »Sie-ber-spass«, sagte Odile noch einmal, »kehrt sich um.« Sie machte mit den Händen eine Geste, die Hollis unangenehm an ein gehäkeltes Uterusmodell erinnerte, das ihre Lehrerin früher im Aufklärungsunterricht benutzt hatte.
    »Kehrt sich selbst nach außen«, trug Alberto zur Klärung bei. »Cyberspace. Obstsalat und ein Kaffee.« Hollis brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Letzteres an die Kellnerin gerichtet war. Odile bestellte Café au Lait, Hollis einen Bagel und Kaffee. Die Kellnerin verschwand.
    »Man könnte sagen, dass alles mit dem 1. Mai 2000 angefangen hat«, sagte Alberto.
    »Was hat angefangen?«
    »Geohacking. Oder die Möglichkeit dazu. Die amerikanische Regierung erklärte damals, dass die Zugriffssperre für das, was bis dahin ein rein militärisches System war, abgeschaltet würde. Zivile Nutzer konnten somit zum ersten Mal auf die GPS-Geokoordinaten zugreifen.«
    Hollis hatte aus Philip Rauschs Erklärungen nur ansatzweise verstanden, dass sie über verschiedene Dinge schreiben sollte, die Künstler mit Längen und Breiten und dem Internet anstellten. Albertos virtuelle Darstellung des toten River Phoenix kam deshalb völlig überraschend für sie. Doch jetzt, hoffte sie, hatte sie die Einleitung für ihre Reportage. »Wie viele solcher Arbeiten hast du gemacht, Alberto?« Und sind sie alle posthum? Aber das fragte sie nicht laut.
    »Neun«, sagte Alberto. »Erst kürzlich habe ich ein virtuelles Denkmal für Helmut Newton am Chateau Marmont fertig gestellt.« Er deutete über den Sunset Boulevard. »Da, wo er seinen tödlichen Unfall hatte, am Ende der Hotelausfahrt. Ich zeige es dir nach dem Frühstück.«
    Die Kellnerin kam mit ihren Kaffees. Hollis beobachtete, wie ein sehr junger, sehr blasser Engländer an der Theke ein gelbes Päckchen American Spirits kaufte. Sein dünner Bart sah aus wie Moos rund um ein marmornes Abflussbecken. »Und die Leute, die im Marmont wohnen«, fragte sie, »haben keine Ahnung von dem, was du dort gemacht hast?« Genauso wie Fußgänger keine Ahnung hatten, dass sie durch den leblosen River hindurchgingen, auf seinem Gehweg am Sunset.
    »Nein«, meinte Alberto, »haben sie nicht. Noch nicht.« Er wühlte in einer großen Segeltuchtasche auf seinem Schoß herum und zog ein Handy heraus, das durch silbernes Klebeband mit irgendeinem anderen kleinen Elektrogerät verbunden
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