Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quellcode

Quellcode

Titel: Quellcode
Autoren: William Gibson
Vom Netzwerk:
Füße in den schwarzen Red-Wing-Boots waren sehr kalt. Er stellte sich vor, genüsslich in ein tiefes japanisches Bad aus eben dieser Entensuppe zu sinken. »Er sieht wie die Männer aus, die früher in den Eisenwarengeschäften hier in der Straße herumstanden«, sagte er zu Alejandro. »Alte Männer in alten Mänteln, die nichts anderes zu tun hatten.« Die Eisenwarengeschäfte waren aus der Canal Street verschwunden, ersetzt durch Shops für Handys und Prada-Fälschungen.
    »Wenn du Carlito erzählst, dass du denselben Lieferwagen oder auch nur dieselbe Frau zweimal gesehen hast«, sprach Alejandro in seine dampfende Suppe hinein, »würde er jemand anderen schicken. Das Protokoll verlangt es so.«
    Auch ihr Großvater, der Urheber dieses Protokolls, war verschwunden wie die alten Männer in der Canal Street. Seine in jeder Hinsicht illegale Asche war an einem kühlen Aprilmorgen von einer Staten-Island-Fähre verstreut worden. Die Onkel schirmten ihre zeremoniellen Zigarren gegen den Wind ab, während sich die zur Fähre gehörigen Taschendiebe diskret fern hielten von dem, was sie ganz richtig als eine äußerst private Veranstaltung ansahen.
    »Da ist nichts gewesen«, sagte Tito. »Nichts, was auf das geringste Interesse hindeutet.«
    »Wenn jemand uns bezahlt, diesem Mann Schmuggelware zu übergeben – und es liegt in der Natur unseres Geschäfts, dass wir nichts anderes übergeben –, dann ist sicher noch jemand anderer daran interessiert.«
    Tito überprüfte die Aussage seines Cousins und fand sie stichhaltig. Er nickte.
    »Du kennst das doch, wenn jemand sagt ›Fang endlich an zu leben!‹, Cousin.« Alejandro sprach jetzt englisch. »Wir alle müssen irgendwann anfangen zu leben, Tito, wenn wir hier bleiben.«
    Tito sagte nichts.
    »Wie viele Lieferungen bis jetzt?«
    »Vier.«
    »Zu viele.«
    Sie aßen schweigend weiter ihre Suppe, während draußen in der Canal Street Lastwägen über Metall rumpelten.
     
    Später stand Tito vor dem Spülbecken in seinem Zimmer mit der hohen Decke in Chinatown und wusch weiße Wintersocken mit Woolite. Socken an sich waren ihm jetzt nicht mehr so fremd, aber das Gewicht von diesen nassen Socken hier erstaunte ihn. Und immer noch waren seine Füße manchmal kalt, trotz der Einlegesohlen aus dem Surplus Store am Broadway.
    Er dachte an das Spülbecken in der Wohnung seiner Mutter in Havanna. Die Plastikflasche mit dem Saft der Henequen-Agave, den sie als Waschmittel benutzte, das Putzkissen aus den rauen Fasern derselben Pflanze und ein Eimerchen mit Kohle. Er sah die kleinen Ameisen vor sich, die auf dem Rand der Spüle entlangflitzten. In New York, darauf hatte ihn Alejandro einmal hingewiesen, waren die Ameisen viel langsamer.
    Ein anderer Cousin, der nach der Flut aus New Orleans hergezogen war, sagte, er habe einen wimmelnden und glitzernden Ball aus roten Ameisen im Wasser gesehen. Es schien, als wollten die Ameisen sich so vor dem Ertrinken retten. Tito hatte damals gedacht, dass es mit seiner Familie genauso war: Sie trieben in Amerika, in kleinerer Anzahl zwar, bildeten auf dem imaginären Floß ihres Familiengewerbes aber doch eine Gemeinschaft.
    Manchmal sah er sich Nachrichten im Russian Network of
    America auf seinem Sony-Plasmabildschirm an. Die russischen Stimmen der Moderatoren nahmen langsam etwas Traumhaf-tes, Unterwasserartiges an. Ob es sich so anfühlte, eine Sprache langsam zu verlieren?
    Tito rollte seine Socken zusammen, wrang Wasser und Laugenreste heraus, ließ das Becken auslaufen und füllte es wieder. Er legte die Socken zum Ausspülen hinein und trocknete sich die Hände an einem alten T-Shirt ab, das er als Handtuch benutzte.
    Das Zimmer war quadratisch und fensterlos, mit einer einzigen Tür aus Stahl und weiß getünchten Gipsplattenwänden. Die Decke war aus nacktem Beton. Manchmal lag er auf seiner Matratze, starrte hinauf und verfolgte mit den Augen die Ränder verschwundener Gipsplatten dort oben, fossile Abdrücke aus der Zeit, in der der Boden darüber gegossen worden war. Es gab keine anderen Bewohner des Gebäudes. Seine Geschossnachbarn waren eine Firma, in der koreanische Frauen Kinderkleidung nähten, und eine andere, kleinere, die irgendwie mit dem Internet zu tun hatte. Seine Onkel hatten das Zimmer angemietet. Wenn sie einen Ort für bestimmte Geschäfte brauchten, schlief Tito manchmal bei Alejandro, auf der Ikea-Couch seines Cousins.
    In seinem Zimmer waren ein Waschbecken und eine Toilette, eine Kochplatte, eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher