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Titel: Quellcode
Autoren: William Gibson
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trotzdem.«
    »Wer heutzutage nicht verwirrt ist«, erwiderte er, »ist wahrscheinlich psychotisch. Wir schnappen doch alle fast über, oder? Aber du machst ganz und gar nicht den Eindruck auf mich, als ob du dich wirklich fürchten würdest. Verwirrt vielleicht, aber Angst kann ich nicht sehen.«
    »Gerade, heute Nacht«, erzählte sie ihm, »habe ich Leute dabei beobachtet, wie sie das Merkwürdigste taten, was ich vermutlich in meinem ganzen Leben jemals sehen werde.«
    »Wirklich?« Er war plötzlich sehr ernst. »Ich beneide dich.«
    »Erst dachte ich, es handelt sich um Terrorismus oder Verbrechen in einem herkömmlichen Sinn, aber das war es nicht. Ich glaube, dass es im Grunde …«
    »Was?«
    »Ein Streich war. Ein Streich, für den man total verrückt sein muss, um ihn sich zu leisten.«
    »Du weißt, dass ich zu gerne wüsste, was das gewesen sein könnte«, erwiderte er.
    »Ich weiß. Aber ich habe in dieser Sache einmal zu oft mein Wort gegeben. Ich habe es Bigend gegeben und dann noch jemandem. Ich würde dir gern versprechen, dass ich es dir irgendwann erzählen werde, aber das kann ich nicht. Außer ich kann es vielleicht doch. Irgendwann. Je nachdem. Verstehst du?«
    »Ist diese junge Französin lesbisch?« fragte Inchmale.
    »Warum?«
    »Sie scheint sich ja sehr zu Heidi hingezogen zu fühlen.«
    »Ich würde das nicht unbedingt als Indiz werten, dass sie lesbisch ist.«
    »Ach nein?«
    »Heidi weckt Präferenzen für ihre ganz eigene Geschlechtskategorie. Bei manchen Menschen. Und viele davon sind Männer.«
    Er grinste. »Da ist was dran. Hatte ich ganz vergessen.«
    Ein melodischer Gong ertönte.
    »Das Mutterschiff«, sagte Inchmale.
    Hollis sah zu, wie Ollie Sleight einen klirrenden, servietten-bedeckten Servierwagen hereinschob. Er hatte wieder sein teures Schornsteinfeger-Outfit an, war jetzt aber glatt rasiert. »Wir wussten nicht, ob Sie schon etwas gegessen haben«, sagte er. Und zu Hollis: »Hubertus bittet Sie, ihn anzurufen.«
    »Ich bin noch beim Verarbeiten«, antwortete sie. »Morgen.«
    »Du servierst hier das Frühstück«, sagte Inchmale und schnitt mit einem kräftigen Klopfen auf Ollies Schulter jede Widerrede ab. »Wenn du damit Erfolg haben und irgendwann mal vom Bürgerkriegsstatist aufsteigen willst«, er schnippte gegen den Kragen des Schornsteinfegeranzugs, »dann musst du lernen, dich auf deine Aufgabe zu konzentrieren.«
    »Ich bin fix und fertig«, sagte Hollis. »Ich muss jetzt schlafen. Ich rufe ihn morgen an, Ollie.«
    Sie ging nach oben. Es wurde schon hell, schrecklich hell, und weit und breit nichts, was nach einem Vorhang oder einer Jalousie aussah. Sie stieg aus den Jeans, kletterte in Bigends Magnetschwebebett, zog sich die Decke über den Kopf und war augenblicklich eingeschlafen.

81. IN DER LUFT
    »Du hast keine Nummer, die du mir geben kannst? E-Mail?« Der Mann von Igors Plattenfirma wirkte verzweifelt.
    »Ich bin am Umziehen«, sagte Tito, der am Fenster des Probenraums Ausschau nach Garreth hielt. »Ich hänge gerade ein wenig in der Luft.« Er sah den weißen Lieferwagen.
    »Du hast meine Karte«, sagte der Mann, als Tito zur Tür rannte.
    »Ramon!«, brüllte Igor begeistert zum Abschied und spielte einen scheppernden Akkord auf seiner Gitarre. Die anderen grölten.
    Tito rannte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, über den nassen Gehweg der menschenleeren Straße, riss die Beifahrertür auf und stieg ein.
    »Party?« fragte Garreth lächelnd und fuhr an.
    »Eine Band. Probe.«
    »Du bist schon in einer Band?«
    »Nur als Ersatzmann.«
    »Was spielst du?«
    »Keyboard. Der Mann vom Union Square hat versucht, mich umzubringen. Mit dem Auto.«
    »Ich weiß. Wir mussten hier eine ganze Mengen Strippen ziehen, um ihn aus der U-Haft rauszubekommen.«
    »Er ist raus?«
    »Sie haben ihn nur eine Stunde oder so festgehalten. Er wird ohne Anklage davonkommen.« Sie hielten an einer Ampel. »Die Lenkung seines Autos hat versagt. Ein Unfall. Zum Glück wurde niemand verletzt.«
    »Da war noch ein zweiter Mann, ein Beifahrer«, sagte Tito, als die Ampel umsprang.
    »Hast du ihn erkannt?«
    »Nein. Aber ich habe gesehen, wie er weggegangen ist.«
    »Der Mann, der heute Nacht versucht hat, dich zu überfahren, und der auch damals im Park hinter dem iPod her war, hatte die Aufgabe, uns in New York ausfindig zu machen.«
    »Er hat die Wanze in meinem Zimmer versteckt?«
    Garreth warf ihm einen Blick von der Seite her zu. »Ich wusste gar nicht, dass du darüber
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