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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition)
Autoren: Eva Menasse
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Brief. Judith beschloss, sich aus ihrem Zimmer ein Buch zu holen. Im Haus war es still und kühl. Die Tür zum gelben Salon, in den der Vater ein großes, hohes Bett für die Mutter stellen hatte müssen, war weiterhin geschlossen.
    Judith ging in ihr Zimmer und hockte sich auf den Boden. Sie wühlte unentschlossen in ihren Sachen herum, betrachtete Bücher, zog ein paar Fotos heraus und kniete plötzlich vor Xanes Reisetasche.
    Die Briefe waren nicht großartig versteckt, nur ganz unten, sodass man die Hand an der Taschenwand entlang bis zum Boden schieben musste. Und sie tat auch nichts anderes, als einen Blick auf den Absender zu werfen. Dann steckte sie die Briefe zurück und ging wieder hinaus, in die Hängematte.
    Irgendwann kam Xane zurück. Ich glaub, ich rauch noch eine, sagte sie.
    Judith hielt ihr die Mohrendose hin.
    Dein Vater hat gerade gesagt, ich soll ihn ruhig duzen, sagte Xane und kicherte, das finde ich aber komisch: Heinz …
    Tom ist natürlich viel schöner, sagte Judith, aber wahrscheinlich heißt er eh nur einfach Thomas?
    Xanes Gesichtsausdruck erschreckte sie, und sie hätte es gerne zurückgenommen. Aber wenn man etwas begonnen hat, muss man es fertig machen, sonst bricht alles zusammen, das predigte ihr Vater immer, auch wenn man viel Geduld braucht, gerade mit einem so anspruchsvollen Objekt, das erst mehr verlangt, dann aber viel mehr können wird, ihr werdet schon sehen, das alles ist eine Investition in die Zukunft.
    Xane stand vor ihr, eine Hand zur Faust geballt, in der anderen die unangezündete Zigarette.
    Hau mich ruhig, sagte Judith leise, du kannst mich gern hauen, aber ich hab sie nicht gelesen, das schwöre ich dir.
    Xane stand und starrte.
    Feuer, fragte Judith und musste beinahe lachen. So ging es ihr leider oft, auch wenn ihre Mutter schimpfte und schluchzte, aus keinem ersichtlichen Grund, und wenn sie drohte, sie werde alles dem Vater erzählen, am Abend, und der werde es ihr schon zeigen, das wisse sie genau, wenn es ihr so schlecht gehe, könne Judith sich nicht aufführen wie …, und dann gingen der Mutter manchmal die Worte aus und sie warf mit irgendetwas, einmal sogar mit einem Topf, aber nicht mit dem heißen, und bei solchen Gelegenheiten musste Judith manchmal lachen, obwohl es die Lage nie verbesserte, im Gegenteil, aber sie rechnete sich das immerhin als Ehrlichkeit an.
    Xane drehte sich um und sagte im Weggehen, bin gleich wieder da, und sie war so schnell zurück, dass Judith meinte, sie habe in der Zwischenzeit höchstens einmal an der Zigarette gezogen, irgendwie magisch. Zurück kam sie mit den drei Briefen und warf sie ihr hin, du kannst sie gerne lesen, lies sie halt, doch Judith wollte nicht, um nichts in der Welt wollte sie jetzt das, wovor sie sich zwanzig Minuten vorher nur mühsam hatte bewahren können, ich will nicht, das interessiert mich nicht, behalt deine Briefe, oder erzähl mir halt, was drinsteht, wer ist der Typ überhaupt?
    Und von da an wurde endgültig alles anders, vollkommen anders, aber nicht besser.
    Von da an ließ Xane alle Gefühle strömen, immer wieder, in süßlichen Sturzbächen: wie sie diesen Tom in Frankreich kennengelernt hatte, wie er aussah, was er zu ihr gesagt hatte, dass er einmal ihre Hand genommen hatte, und die besten Passagen seiner Briefe konnte auch Judith bald auswendig. Am Anfang fand sie es ebenfalls unglaublich , dass Tom aus einem Ort in der Nähe von Claudias Großeltern stammte, und total genial , wie Xane ihre Eltern überredet und sich bei Claudia selbst eingeladen hatte. Am Anfang war sie von der Geschichte mitgerissen, aus Erleichterung, weil Xane nicht zu Claudia übergelaufen war, und aus juckender Neugier, da sie selbst bisher erst zwei Arten von Männern begegnet war, den Buben aus der Klasse, die noch mit Schlümpfen spielten, und ihrem Vater, diesem pathetischen Schläger.
    Aber bald ging es ihr tödlich auf die Nerven. Die einzigen Momente, wo Xane nicht von Tom sprechen, tiefsinnige Überlegungen bezüglich Toms Charakter anstellen und ihre eigenen Gefühle in immer schillerndere Einzelteile zerlegen konnte, waren die Fahrten mit Salome und dem Vater zum Großmarkt. Für Judith war das ein Unterschied wie zwischen Pest und Cholera. Denn ihr Vater, der nicht mehr an die Erholung seiner Frau glauben mochte, verlangte, dass die Mädchen beim Einkaufen und Essenmachen halfen. Und Xane fand das allen Ernstes interessant . Zwar saß sie im Auto freiwillig hinten, damit Judith und Salome getrennt
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