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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition)
Autoren: Eva Menasse
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Claudia selbst, die sie beide von klein auf kannten, länger als einander.
    Claudia war genauso blond und freundlich wie Lizzie, aber bei ihr hatte alles einen Zug ins Grobe. Ihre Nase war im Vergleich mit der ihrer Mutter nur ein winziges bisschen aufgeworfen, sah deshalb aber gleich aus wie ein Schweinerüsselchen; sie wurde, und nicht nur in der Schule, ständig rot, schwitzte leicht, verhaspelte sich beim Sprechen und fuhr sich andauernd durch die Haare, was man denen deutlich ansah. Und während man sich bei Lizzie – oder Frau Denneberg – wie in einem heiteren französischen Film fühlte, wenn sie einem eiskalte Melonenstückchen in den Holundersaft tat, so empfanden die Mädchen Claudias Gastfreundschaft, deren Pfeiler Vollkornkekse und eine selbstgetöpferte Teekanne waren, als plump und belastend. An Claudia war das Drama der schlechten Kopie zu besichtigen. Das verstand Judith erst als Erwachsene. Damals machte es Xane und sie einfach aggressiv, dass Claudia nicht nur jedes Talent fehlte, sondern auch die mindeste Fähigkeit zur Verstellung.
    Aber deshalb beschützten sie sie. Sie, von denen man annehmen hätte können, dass sie dieses warmherzige, ungeschickte, nach sämtlichen Jugendstandards immens peinliche Mädchen quälen oder zumindest kalt verachten müssten, hatten es vor langer Zeit zur Freundin erklärt. Die Richtung gab die bewunderte Lizzie Denneberg vor, die ihre Tochter mit der unerschütterlichen Nachsicht einer Kindergärtnerin behandelte und von der sie damals glaubten, dass diese insgeheim unter Claudias Begriffsstutzigkeit ebenso leide wie sie.
    Und schließlich waren sie in die Verstrickungen mit Claudia schon vor langer Zeit hineingeraten, in einem Zustand kindlicher Unschuld. Judith kannte Claudia seit dem ersten Schultag, und Xane, die in eine andere Volksschule gegangen war, wohnte im selben Haus.
    Am ersten Schultag, dem Fest der geschmückten Schultüten, hatte Judiths Mutter wieder einmal die Haare ihrer Tochter verleugnen wollen. Sie begann frühmorgens mit der Prozedur, die kaltes Wasser, Zitronensaft, scharfe Kämme und ein Brenneisen erforderte. Judith schrie und tobte, ihrer Mutter rutschte mehrmals die Hand aus, wie man die Ohrfeigen damals nannte, das Kleid wurde schmutzig, weil Judith sich zwischendurch am Boden wälzte, und das Seidentuch, das als überbreites Band ihre Haare niederhalten sollte, passte farblich nicht zum einzigen Ersatzkleid. Im Auto hielt Judith ihren malträtierten Kopf unter der Jacke versteckt, Judiths Mutter weinte lautlos, Judiths Vater spielte den unbeteiligten Chauffeur. Als sie bei der Schule vorfuhren, wo sich herausgeputzte Kinder den väterlichen Kameras präsentierten, hatte die dreijährige Salome unbemerkt einen Großteil von Judiths Süßigkeiten verschlungen und übergab sich gleich nach dem Aussteigen auf dem Gehsteig.
    Judith hatte ihre halbleere Schultüte, von der die Papiergirlanden in Fetzen hingen, mit kerzengeradem Rücken weg von ihrer Familie in das Schulhaus hineingetragen, in einen Klassenraum, der noch nach Farbe roch. Sie überhörte tapfer das erste Pippi-Langstrumpf-Gezischel. Doch als sie von der Lehrerin ermuntert wurde, mehrere vorgedruckte Birnen anzumalen, die ihr persönliches Symbol für Kleiderhaken, Hausschuh-Fach und alle Schulbücher sein würden, jedenfalls so lange, bis sie lesen und schreiben konnte, und sie dabei feststellte, dass ihr Federpennal anscheinend, als weiteres Opfer des Haar-Dramas, zu Hause vergessen worden war, begannen die Tränen zu fließen. Da stupste eine kleine Blonde ihren Unterarm an, schob ihr ein Taschentuch hin, teilte alle Buntstifte mit ihr und flüsterte später, als sie wieder hinaus, zu ihren wartenden Familien entlassen waren: Deine Haare sind so schön. Darf ich sie angreifen?
    Judith nickte, Claudia streichelte ihr vorsichtig den Kopf, den Mund vor Anspannung halb offen, und sagte staunend: Wie rote Zuckerwatte.
    Das war der Anfang.
    Xanes erste Begegnung mit Claudia war angeblich in den Nebeln der Kindheit versunken. Judith unterstellte ihr, etwas zu verheimlichen. Aber Xane schien sich wirklich an nichts Besonderes zu erinnern und behauptete, Judith um die klar zuordenbare Geschichte mit der Zuckerwatte zu beneiden, übrigens die einzige gute Formulierung, die man je von Claudia gehört hatte. In Deutsch war sie später eine Doppelnull, noch schlimmer als in den anderen Fächern, von Biologie und Zeichnen abgesehen.
    Kurz bevor sie ins Gymnasium kamen, hatten sie sich
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