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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition)
Autoren: Eva Menasse
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zum ersten Mal zu dritt getroffen. Lizzie Denneberg wollte die beiden Freundinnen ihrer Tochter miteinander bekannt machen, da sie alle in dieselbe Klasse kommen würden. Lizzie lud auch die Mütter ein. Xanes Mutter war an diesem Tag beim Friseur gewesen und sah obenherum etwas überdimensioniert aus, besonders im Vergleich mit Frau Dennebergs jugendlichem Pferdeschwanz. Sie versuchte diesen Nachteil mit sprudelndem Lob für Lizzies Blumenbalkon zu überspielen. Die Schüchternheit von Judiths Mutter hielten die beiden für vornehme Zurückhaltung. Immerhin war sie gerade für eine Weile gesund.
    Als die Mütter Kaffee tranken, verzogen sich die Mädchen ins Kinderzimmer. Claudia wollte Blumen aus Seidenpapier basteln und legte ihre bunten Papierbogen, den Blumendraht, die Scheren und das Klebeband in einer, wie sie meinte, unwiderstehlichen Reihe auf dem Fußboden aus. Judith und Xane starrten einander an wie vom Blitz getroffen. Sie hatten beide eine Art zweite Claudia und einen dementsprechend kindischen Nachmittag erwartet. Und nun waren sie entzückt, wegen der ungeahnten neuen Möglichkeiten, aber auch verwirrt wegen ihrer Verpflichtungen gegenüber Claudia, die nichtsahnend zum fünften Rad am Wagen geworden war.
    In jenem Sommer, bevor sie in die Oberstufe kamen, war alles anders als in den Jahren zuvor. Xanes Eltern hatten den Familienurlaub aus irgendwelchen Gründen streichen müssen, und Xane war, wie Claudia, sofort nach Schulschluss von einem unbekannten Ort verschluckt worden. Sie blieb länger weg, als Judith erwartet hatte. Als sie endlich anrief, gestand sie unter viel Gekicher und verräterischen Abschweifungen, dass sie auf dem Rückweg noch ein paar Tage bei Claudia vorbeigeschaut habe.
    Ein paar Tage, wiederholte Judith langsam, wie lange genau?
    Aber Xane tat, als würde sie das nicht mehr wissen, warte mal, sagte sie, ich bin am Sonntag von Nizza weg, also war ich am Montag – oder nein, ich glaube, es war erst Montag, als ich …
    Vergiss es, sagte Judith, ist nicht so wichtig. Xanes Stimme klang so falsch wie ihre Geschichte, die undenkbar war bei ihren wohlorganisierten Eltern, und bei Claudias Großeltern sowieso, über die Claudia immer klagte, sie seien so streng. Aber dass Xane und Claudia schon vor den Ferien gewusst haben sollen, dass sie sich in jenem Dorf wiedersehen würden, nur sie beide, ohne Judith, hinter Judiths Rücken, das konnte sie sich noch weniger vorstellen. Und deshalb musste sie Xane sehen, so schnell wie möglich, und lud sie einfach für ein paar Tage ein, vereinbarte Datum und Uhrzeit, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.
    Du hast was gemacht, zischte ihr Vater, du blödes, gedankenloses, egoistisches Stück…
    Judith hatte vorsichtshalber zu weinen begonnen, ehe sie zu ihm gegangen war, in das Gartenhaus, in das er seit Wochen eine Sauna einzubauen versuchte. Von ihrer Mutter war zurzeit kaum etwas zu sehen, nur manchmal hörte Judith nachts, im Halbschlaf, dass sie mit dem Hund das Haus verließ.
    Der Vater stand vor ihr, in einer staubigen Arbeitshose, das Gesicht ein unscharfer hellerer Fleck vor dem Hintergrund. Sie zog den Kopf ein und hob die Ellbogen vors Gesicht, er legte den Schlagbohrer hin, mit einer zarten, beinahe nachdenklichen Bewegung, aber dann war er schon bei ihr und schlug zu. Judith ließ sich fallen und umklammerte seine Knöchel. Sie schrie, bettelte und wimmerte, aber das alles war längst ein Programm, das in ihr ablief, eine Rolle, die dafür sorgte, dass sie so gut wie unempfindlich wurde. Es war, wie im Meer von ein oder zwei Wellen überrollt zu werden. Man wusste ungefähr, dass man nicht länger unter Wasser gedrückt würde, als man maximal die Luft anhalten konnte. Genauso, wie sie wusste, dass sie die Zähne fest zusammenbeißen, die Nackenmuskeln aber möglichst locker lassen musste, wenn der Vater zum Schluss mitten in ihre Haare greifen und ihren Kopf ein paar Mal hin-und herschütteln würde. Da er durch ihre Büßerinnenhaltung raffiniert an den Beinen behindert war, konnte er ihr ja sonst gar nicht richtig wehtun. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie sich einmal beinahe ein Stück Zunge abgebissen und war danach zum ersten Mal über das eigene Spiegelbild erschrocken, sein Handabdruck samt Ehering fast komplett im Gesicht und all das Blut, das noch lange in ihren Mund lief. Als er mit beiden Händen in ihren Haaren war, ließ sie seine Beine los und rollte sich wie ein Igel zusammen. Dann kam ein Tritt, und noch einer,
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