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Qual (German Edition)

Qual (German Edition)

Titel: Qual (German Edition)
Autoren: Stephen King , Richard Bachman
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kleinen Mädchens von nebenan.
    Ich hatte ungefähr drei Viertel meines Heimwegs zurückgelegt, als die Fevereau in ihrem lächerlichen senfgelben Hummer an mir vorbeifuhr. Sie hatte wie immer ihr Mobiltelefon in einer Hand und eine Zigarette in der anderen; und wie immer fuhr sie zu schnell. Ich achtete kaum auf sie und sah erst recht nicht, wie Gandalf vor ihr über die Fahrbahn schoss und nur Augen für Monica Goldstein hatte, die auf der gegenüberliegenden Seite in voller Pfadfinderuniform die Straße entlangkam. Ich konzentrierte mich auf meine wieder zusammengeflickte Hüfte. Wie immer gegen Ende meiner kurzen Spaziergänge fühlte dieses sogenannte medizinische Wunder sich an, als sei es mit mindestens zehntausend winzigen Glasspitzen gespickt. Meine deutlichste Erinnerung, bevor die Reifen des Hummers kreischten, betrifft den Gedanken, dass die Mrs. Fevereaus der Welt jetzt in einem anderen Universum lebten als dem meinen, in dem alle Sinneswahrnehmungen auf halbe Stärke heruntergeregelt waren.
    Dann kreischten die Reifen, und der Aufschrei eines kleinen Mädchens vermischte sich mit dem Geräusch: »GANDALF, NEIN!« Einen Augenblick lang hatte ich ein unirdisch klares Bild davon, wie der Kran, der mich beinahe umgebracht hatte, das rechte Fenster meines Pick-ups ausfüllte, sodass die Welt, in der ich immer gelebt hatte, plötzlich von einem Gelb verschluckt wurde, das viel kräftiger als das von
Mrs. Fevereaus Hummer war, während schwarze Buchstaben herantrieben, anschwollen, immer größer wurden.
    Dann begann auch Gandalf zu kreischen, und die Rückblende – die Dr. Kamen zweifellos als wiedergewonnene Erinnerung bezeichnet hätte – verschwand. Bis zu diesem Oktobernachmittag vor vier Jahren hatte ich nicht gewusst, dass Hunde überhaupt kreischen können .
    Ich verfiel in schwerfälligen Trab, bewegte mich seitwärts wie eine Krabbe und stampfte mit meiner roten Krücke den Gehsteig entlang. Einem Zuschauer wäre das bestimmt lächerlich erschienen, aber niemand achtete im Geringsten auf mich. Monica Goldstein kniete mitten auf der Straße neben ihrem Hund, der vor dem hohen, kastenförmigen Kühlergrill des Hummers lag. Ihr Gesicht über der forstgrünen Uniform, zu der sie eine Schärpe mit Abzeichen und Medaillen trug, war kreidebleich. Das Ende ihrer Schärpe sog sich in der größer werdenden Lache aus Gandalfs Blut voll. Mrs. Fevereau verließ den absurd hohen Fahrersitz des Hummers halb springend, halb fallend. Ava Goldstein kam aus der Tür des Goldstein-Hauses gestürzt und rief laut den Namen ihrer Tochter. Mrs. Goldsteins Bluse war nur halb zugeknöpft, und sie war barfuß.
    »Fass ihn nicht an, Schätzchen, fass ihn nicht an«, sagte die Fevereau. In einer Hand hielt sie weiter ihre Zigarette und paffte nervös daran. »Er könnte beißen.«
    Monica beachtete sie nicht. Sie berührte Gandalfs Flanke. Als sie das tat, kreischte der Hund erneut auf – es war ein Kreischen –, und Monica bedeckte ihre Augen mit beiden Handballen. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte ich nur zu gut verstehen.
    Mrs. Fevereau streckte eine Hand nach dem Mädchen aus, dann überlegte sie sich die Sache anders. Sie machte zwei Schritte rückwärts, lehnte sich an die hohe Seite ihres lächerlich gelben Fahrzeugs und sah zum Himmel auf.
    Mrs. Goldstein kniete sich neben ihre Tochter. »Schätzchen, o Schätzchen, bitte nicht …«
    Gandalf begann zu heulen. Er lag auf der Straße, in einer größer werdenden Lache aus seinem Blut, und heulte. Und nun konnte ich mich auch wieder an das Geräusch erinnern, das der Kran beim Zurücksetzen gemacht hatte. Nicht an das Miep-miep-miep , das er hätte machen sollen – sein akustisches Warnsignal war defekt –, sondern an das nagelnde Röhren seines Dieselmotors und das Mahlen seiner Raupen, die die Meter fraßen.
    »Gehen Sie mit ihr rein, Ava«, sagte ich. »Bringen Sie sie ins Haus.«
    Mrs. Goldstein legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern und zog sie hoch. »Komm jetzt, Schätzchen. Komm ins Haus.«
    »Nicht ohne Gandalf! «, kreischte Monica. Sie war elf und für ihr Alter sehr verständig, aber in diesem Augenblick war sie auf den Stand einer Dreijährigen zurückgefallen. »Nicht ohne meinen Doggy! « Die Schärpe, deren Ende sich eine Handbreit mit Blut vollgesogen hatte, klatschte an ihren Rock und ließ eine lange Blutspur die Wade hinunterlaufen.
    »Geh rein und ruf den Tierarzt an«, forderte ich sie auf. »Sag ihm, dass Gandalf angefahren worden
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