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Qual (German Edition)

Qual (German Edition)

Titel: Qual (German Edition)
Autoren: Stephen King , Richard Bachman
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schwimmenden Spielsachen waren bis zum Frühjahr eingemottet. In dem Korb war auch eine Flasche Wein, aber ich trank nur wenig davon. Zusammen mit meinen Schmerzmitteln wirkte Alkohol bei mir sehr
stark; ein einziges Glas konnte mich in einen lallenden Betrunkenen verwandeln. Die beiden Mädchen – die jungen Frauen – teilten sich den Rest, und das ließ sie auftauen. Melissa, seit meiner bedauerlichen Auseinandersetzung mit dem Kran zum zweiten Mal aus Frankreich zurück und darüber nicht glücklich, fragte mich, ob alle Erwachsenen in den Fünfzigern diese unangenehmen regressiven Phasen hätten und sie sich ebenfalls darauf gefasst machen müsse. Ilse, die Jüngere, begann zu weinen, lehnte sich an mich und fragte, warum nicht wieder alles wie früher sein könne, warum wir – nämlich ihre Mutter und ich – nicht wieder sein könnten, wie wir waren .
    Lissas Gereiztheit und Ilses Tränen waren nicht gerade angenehm, aber sie waren wenigstens ehrlich, und ich erkannte beide Reaktionen aus all den Jahren wieder, die die Mädchen in dem Haus verbracht hatten, in dem ich mit ihnen gelebt hatte; diese Reaktionen waren mir so vertraut wie das Muttermal an Ilses Kinn oder die schwache senkrechte Sorgenlinie zwischen Lissas Augen, die sich im Lauf der Zeit wie bei ihrer Mutter zu einer Falte vertiefen würde.
    Lissa wollte wissen, was ich vorhatte. Ich erklärte ihr, das wüsste ich nicht, und in gewisser Weise stimmte das auch. Ich war auf dem Weg zu der Entscheidung, mir das Leben zu nehmen, schon weit fortgeschritten, aber ich wusste, dass mein Freitod unbedingt wie ein Unfall aussehen musste. Ich durfte diesen beiden, die ihr Leben gerade erst ohne alle Vorbelastungen begannen, keine Restschuld am Selbstmord ihres Vaters aufhalsen. Und ich wollte auch der Frau, mit der ich mir einmal einen Milchshake im Bett geteilt hatte – wir beide nackt und lachend, während aus der Stereoanlage die
Plastic Ono Band schallte –, keine Ladung Schuldgefühle hinterlassen.
    Nachdem sie Gelegenheit gehabt hatten, sich auszusprechen – in Kamen-Sprech nach einem gründlichen und vollständigen Austausch von Gefühlen –, kehrte etwas Ruhe ein, und meiner Erinnerung nach verbrachten wir tatsächlich einen netten Nachmittag, blätterten alte Fotoalben durch, die Ilse in einer Schublade entdeckt hatte, und ergingen uns in Erinnerungen an die Vergangenheit. Ich glaube, wir lachten sogar einige Male, aber nicht alle Erinnerungen an mein anderes Leben sind zuverlässig. Kamen sagt, dass wir alle beim Mischen mogeln, wenn es um die Vergangenheit geht.
    Vielleicht sí , vielleicht no .
     
    Weil wir gerade bei Kamen sind: Er war mein nächster Besucher in der Casa Phalen. Das dürfte drei Tage später gewesen sein. Oder vielleicht sechs. Wie viele andere Aspekte meines Gedächtnisses war mein Zeitgefühl in diesen Monaten nach dem Unfall ziemlich futsch. Eingeladen hatte ich ihn nicht; seinen Besuch verdankte ich meiner Reha-Domina.
    Obwohl er bestimmt nicht älter als vierzig war, hatte Xander Kamen den Gang eines viel älteren Mannes, schnaufte sogar im Sitzen und betrachtete die Welt durch dicke Brillengläser und über einen gewaltigen birnenförmigen Bauch hinweg. Er war sehr groß und sehr afroamerikanisch und hatte holzschnittartige Gesichtszüge, die unwirklich erschienen. Diese großen starrenden Augäpfel, diese Galionsfigur von einer Nase und diese totemartigen Lippen waren Ehrfurcht gebietend. Kamen sah wie irgendeine unbedeutende Gottheit in einem Anzug vom Men’s Wearhouse aus. Und er sah wie
ein sicherer Kandidat für einen Herzschlag oder einen Schlaganfall vor dem fünfzigsten Geburtstag aus.
    Er lehnte den angebotenen Kaffee oder ein Cola ab, weil er nicht bleiben könne, und legte dann seinen Aktenkoffer neben sich auf die Couch, wie um dieser Behauptung zu widersprechen. Er hockte mit seinem vollen Meter fünfundneunzig neben der Armlehne meiner Couch (und sank immer tiefer, sodass ich um die Sprungfedern fürchtete), sah zu mir auf und schnaufte wohlwollend.
    »Was führt Sie hierher?«, fragte ich ihn.
    »Oh, Kathi erzählt mir, dass Sie sich umbringen wollen«, sagte er. In diesem Tonfall hätte er auch sagen können: Kathi erzählt mir, dass Sie ein Gartenfest geben, auf dem es frische Krispy Kremes gibt. »Irgendwas Wahres dran?«
    Ich öffnete den Mund, dann machte ich ihn wieder zu. Als Zehnjähriger in Eau Claire hatte ich einmal ein Comicheft aus dem Drehständer im Drugstore geklaut, es vorn in meine
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