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Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln

Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln

Titel: Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
Autoren: Doris Cramer
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Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen Du gnädig bist .«
    » Ich beginne. Halt ihn gut fest«, sagte die junge Frau zu dem Schwarzen, der den Hinterkopf des Hakim an seine Brust presste.
    Mit der linken Hand hielt sie das Auge geöffnet, mit der rechten fasste sie das schlanke Starstichmesser. Sie atmete tief aus und fixierte das Auge. Behutsam senkte sie die Nadel in die getrübte Linse. Sie musste auf den Boden des Augapfels gedrückt und dort eine Weile gehalten werden, um zu verhindern, dass sie wieder aufstieg. Wenn das geschah, wäre alles umsonst gewesen.
    Eine blutige Träne quoll aus dem Auge und rann über Abu Alîs Wange. » Mehr Licht auf das Auge!«, befahl Azîza. » Und die Tränen abwischen.«
    Vorsichtig tupfte die Dienerin über das Gesicht des Alten.
    Dann zog Azîza behutsam die Nadel zurück. Es blieb bei dem einen Blutstropfen, und auch die Linse verharrte an ihrem Platz. Geschafft!
    » Baraka Allah u fiq! Gott segne dich. « Alî el-Mansour seufzte erleichtert. » Du hast getan, was ich von dir verlangte. Sei ganz ruhig, alles wird gut.«
    » Schließe die Augen, Vater, und leg den Kopf in den Nacken. Ich will dich verbinden.«
    Die Tochter tupfte über sein Gesicht, dann legte sie frische Weidenrinde zusammen mit feinen Kürbisschalen über das Auge und wickelte aus reinen, weißen Baumwolltüchern einen Verband.
    » Deine Hände haben nicht gezögert«, sagte der Alte, und man hörte den Stolz in seiner Stimme, » sie blieben ruhig. In einigen Wochen, wenn dieses Auge geheilt sein wird, werden wir, so Gott will, das rechte ebenfalls von seinem Schleier befreien, Insha’allah.«
    Erst später, als alles längst vorüber war und Abu Alî auf seinem Lager zwischen angewärmten Decken lag und sein gleichmäßiger Atem sie eigentlich hätte beruhigen müssen, begann Azîza zu zittern. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und kauerte sich in den Schatten, wo niemand sie sehen konnte.
    In diesem Moment musste sie an die Qualen und den langen, mühevollen Weg denken, den die kleine Mirijam aus Antwerpen hinter sich gebracht hatte, bis Lâlla Azîza dem Vater durch ihre Heilkunst endlich so etwas wie einen Gegendienst erweisen konnte. Dabei war ihr klar, sie würde niemals ihre Dankesschuld abtragen können, nicht einmal dadurch, dass sie ihm das Augenlicht erhielt.

1. TEIL
    SCHRECKENSREISE 1520

1
    ANTWERPEN
    Am Tag vor seinem Tod tat Andrees van de Meulen endlich alles Nötige, um die Zukunft seiner Töchter Lucia und Mirijam zu sichern. Allzu lange hatte er die Augen vor dem Kommenden verschlossen, jetzt eilte es.
    » Keine Widerrede, Lucia, es ist mein Wille«, verkündete er mit gewohnter Autorität. » Du reist zu deinem Oheim nach Granada und heiratest seinen jüngsten Sohn Fernando. Das Schiff sticht noch heute Abend in See. Mirijam begleitet dich. Sie wird bei dir bleiben, bis Juan, dein Oheim, auch für sie einen guten Ehemann gefunden hat. Nun packt eure Sachen, danach kommt wieder zu mir, damit ich euch meinen Segen geben kann.« Der Kaufmann winkte den Mädchen, sich zu entfernen.
    Lucia lief schluchzend und mit fliegenden Röcken in ihre Kammer, während Mirijam auf den Treppenabsatz sank. Was sie am Bett des Vaters gespürt hatte, ließ sie frösteln. Etwas Fremdes war um den armen kranken Vater gewesen. Außerdem hatte sie die fahle Blässe im Gesicht des Vaters gesehen und die dunklen Schatten um seine Augen, und sie ahnte, was das bedeutete. Offensichtlich wusste auch er selbst, wie es um ihn stand. Aber er durfte nicht sterben und sie verlassen! Tief in ihrem Inneren spürte sie jedoch, niemand konnte sich dem Tod in den Weg stellen, weder Arzt noch Priester. Er würde sterben. Deshalb schickte er sie zu fremden Leuten. Aber ausgerechnet nach Andalusien?
    Mirijam lehnte sich an das Geländer. Blicklos starrte sie auf ihre verkrampften Hände. Wenn, dann war jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um zu beten, dachte sie. Muhme Gesa behauptete, bis auf den einen oder anderen Unterschied seien der jüdische und der christliche Gott im Grunde gleich. Sie sagte auch, ein Gebet zur rechten Zeit sei immer nützlich.
    Als Kind einer jüdischen Mutter kannte Mirijam keine christlichen Gebete, dennoch faltete sie jetzt die Hände. Sie kniete auf dem Dielenboden, verschränkte die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten, und flehte inbrünstig: » Allmächtiger Gott, Herr und Gebieter über alle Stämme Abrahams und Israels,
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