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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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der Königin als Trophäe behalten wollen. Dasjenige, das sie auf dem Empfang getragen hatte, war ähnlich, das stimmte. Darum war sie ja auch auf den Gedanken gekommen, die beiden im Menschengewühl zu vertauschen. Sie hatte sich wohl nicht ausgemalt, dass man ihr so schnell auf die Schliche käme. Der nicht wieder gutzumachende Schaden, den sie dem makellosen Leben des Vaters zufügte, kümmerte sie nicht im Geringsten. Wäre sie nicht eine Dupuy, so hätte er sie angezeigt, damit die Polizei mit ihr anstellte, was sie wollte, doch solange sie seinen Namen trug, durfte er das nicht zulassen. Die Spiegel würden sie für immer gefügig und, wenn er Glück hatte, wie die Mutter zu einer Pflanze machen.
    Niedergeschmettert vor dem Umkleideraum, kämpfte Emilia nicht mehr. Dupuy stieß sie hinein, warf ihr eine Bettdecke hinterher und sagte beim Abschließen der Tür: Hier kommst du mir nicht raus, bevor das andere Cape auftaucht. Und wenn es dieses Cape nicht gibt, wirst du nie wieder rauskommen. Für mich bist du gestorben. Vergiss deine Mutter.
    Obwohl die Geräusche von draußen nur sehr gedämpft hereindrangen, hatte Emilia den Eindruck, er entferne sich. Sie würde sich von der Angst nicht kleinkriegen lassen. Schon einmal war sie eine ganze Nacht eingeschlossen worden und hatte es überlebt. Simón war ja bei ihr, Simón war ihre Kraft. Um sich nicht selbst zu verlieren, würde sie einfach an nichts denken. Keine Gedanken, kein Bild, wie die Zen-Buddhisten. Nur die Null Gottes. Lieber würde sie vor Erschöpfung, Fieber, Wahnsinn oder was auch immer sterben, als dass der Vater sie schreien oder winseln hörte oder kriechen sähe. Sie hatte eine trockene Kehle. Sie würde durchhalten. Das Nachtlicht war schwächer als in ihrer Kindheitserinnerung. Wenn etwas von ihr in den Spiegeln war, sah sie es nicht. Sie konnte einige wenige verschwommene Bilder erkennen, den Abglanz eines anderen Wesens. In der Grundschule hatte man ihr die Geschichte von Alice zu lesen gegeben, die sich auf die andere Seite der Spiegel gewagt hatte, wo die Wirklichkeit umgestülpt war. Alice war nicht verborgen, aber unerreichbar. Niemand konnte sie erhaschen. Seither träumte sie dauernd von dieser fremden Welt. Auf der letzten Seite des Spiegelbuchs wurde gesagt, dass die geträumten Figuren uns auch ihrerseits träumen können, und wenn sie nicht aufpassten, würden wir, die Geträumten, wie eine Kerze erlöschen. Ihr war es egal zu erlöschen, wenn ihr der Traum nur erlaubte, Simón wiederzubekommen. Sie kam sogar auf den Gedanken, Simón könnte die Karten des Unendlichen zeichnen, wo sich Worte und Dinge umgekehrt wiederholten. Sie war erschöpft, ausgebrannt vor Durst. Sie legte sich auf den Parkettboden, lehnte den Kopf an einen Spiegel und schlief langsam ein, in der geheimen Hoffnung, Quecksilber und Glas möchten sich wie in
Alice
in einem silbernen Dunst auflösen und sie könnte diesen unbekannten Horizont überspringen, an dem alles neu beginnt.
    Als sie erwachte, sah sie, dass ihr jemand eine große Flasche Wasser, einen vollen Teekrug, Toasts, Käse ins Zimmer gestellt hatte. Die Lebensmittel herzutragen und sich hinunterzubeugen, um sie auf den Boden zu stellen, das passte nicht zu Dupuy. Wenn aber sonst noch jemand wusste, dass sie eingeschlossen war, war das ein Hinweis darauf, dass man sie nicht würde sterben lassen. Man würde sie aber auch nicht gehen lassen. Die Spiegel setzten sich glatt, fugenlos fort und verbargen den Türspalt. Sie kam sich vor wie in einem auf immer versiegelten Grab. Allmählich gewöhnten sich die Augen daran, die von dieser Oxymoronlampe namens Nachtlicht blass erleuchtete Leere besser zu erkennen. Sie aß und trank das Unerlässliche und schob dann das verbleibende Wasser beiseite. Sie war etwas wacher. Ihr in den Spiegeln unzählig oft wiederholtes Bild übte eine hypnotische Wirkung auf sie aus. Sie hielt das Gesicht an die ebene, gleichgültige Fläche. Ich sehe meinen ganzen Körper, stehend, sagte sie sich. Mein Gesicht sieht den ganzen Körper, geht im Spiegel unter, findet hier Wege – aber der restliche Körper? Warum gibt es keinen Gesichtssinn auf der Stirn, die denkt, in der Nase, die riecht, in der Vagina, die pulsiert? War sie ein einziges Wesen, war sie viele? Und wenn ihre Körper viele waren, wie würde Simón es anstellen, um sie zu finden? Vielleicht konnte er sie von der Seite aus sehen, wo die Wirklichkeit sich umkehrte, und suchte einen Weg zu ihr, ohne sie unter so
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