Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)

Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)

Titel: Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Endl
Vom Netzwerk:
was es von oben herab zu sehen gäbe: die geraden Straßen und soliden Bauten von Sol, der Hauptstadt Solterras, dem Land des immer währenden Lichts.
    Rechterhand konnte Skaia gerade noch das Zentrum erkennen: die drei Tempel der Eingeweihten, daneben die Burg des Guten Herrschers. Mehr als die Außenmauern sahen die meisten Solterraner ihr Leben lang nicht von der Burg, denn die Guten Herrscher führten ein zurückgezogenes Leben. Nur in Abgeschiedenheit und Stille wuchs ihre Weisheit, mit der sie, unterstützt von den Eingeweihten, das Land regierten. Obwohl es kein einziges Bild vom Burginneren gab, wusste Skaia ganz genau, dass es jedem noch so prächtigen Schloss alle Ehre gemacht hätte. In vielen Räumen ragten Säulen in die Höhe, die wie Palmen aussahen. Die Stämme waren aus braungesprenkeltem Marmor und die Blätter aus grünspanbedecktem Kupfer. Sie stützten die Decken, damit diese nicht auf die hübschen Springbrunnen und die vielen Statuen herunterfielen. Manche Figuren stellten Gelehrte dar, die mit zerfurchter Stirn in dicken Büchern lasen oder durch lange, dünne Rohre in den Himmel blickten. Man erkannte sie an den Mützen mit den vielen Zipfeln und den daran baumelnden Bommeln, die man Troddeln nannte. Andere Figuren waren nur teilweise menschlich. Einem halbnackten Mann, der mit ratlosem Blick auf seinem reich geschmückten Thron saß, wuchsen statt Haaren Sonnenstrahlen aus dem Kopf. Ein zweiter war komplett befiedert, und auf dem Rücken trug er einen leeren Vogelkäfig. Am beeindruckendsten freilich war die riesige, liegende Löwenfigur, die mit ihrem Menschenkopf weit in die Ferne blickte: eine Sphinx. Angeblich war sie älter als Solterra selbst ― wie auch immer das gehen sollte. Vom Sonnenmast aus konnte Skaia ihre Silhouette gut erkennen. In den Gärten der Burganlage gab es einen künstlichen See, und auf der Insel in seiner Mitte ruhte die Sphinx. Fast schien es Skaia, als ob sie auf etwas warte. Aber das war natürlich Unsinn! Worauf sollte ein steinernes Bildnis denn warten?
    Vor Jahren war Skaia zum ersten Mal hier herauf geklettert, weil sie wissen wollte, ob die Geschichten stimmten, die sie erzählt bekam. Oft hatte sich ihre Mutter zu ihr ans Bett gesetzt, wenn Skaia nicht einschlafen konnte, und immer wieder begonnen: „Wie deine Urgroßmutter mir über die Burg des Guten Herrschers erzählte ...“ Was Skaia irgendwann aufhorchen ließ, war eine Bemerkung, die nebenbei fiel. „Wenn die Sonne auf die Krone des Osiris fiel“ ― das war die Figur auf dem Thron ―, „leuchtete sie dort beinahe überirdisch schön. Natürlich nur, wenn die Sklaven sie ordentlich poliert hatten.“ Sklaven? Wieso Sklaven? Wie konnte der Gute Herrscher gut sein, wenn er Sklaven hielt? Oder hatte er gar keine Sklaven, und die angeblichen Erinnerungen der Urgroßmutter waren nichts anderes als Märchen? Woher hatte sie die Verhältnisse in der Burg überhaupt so gut gekannt?
    „Das kann ich dir nicht sagen“, hatte Skaias Mutter damals auf ihre erregten Fragen geantwortet. „So, für heute ist Schluss. Versuch jetzt zu schlafen!“ Als sie gegangen war, dachte Skaia lange nach. Dann schlüpfte sie in ihre Kleider und schlich hinaus. Sonst hatte sie sich immer geärgert, dass ihre Wohnung auf einer Erhebung lag und sie bergauf nach Hause laufen musste, aber jetzt erschien es ihr wie eine Fügung. Denn ein paar Straßen weiter stand der höchstgelegene Sonnenmast der Stadt. Als sie ihn keuchend erklommen hatte, konnte sie über die Burgfassaden in die Gärten blicken. Und das, was sie sah, machte sie froh. Tatsächlich lag da die Sphinx. Trotzdem, die Sache mit den Sklaven blieb rätselhaft, und Skaia war nicht sicher, ob sie den Erzählungen glauben sollte. Aber eines war seitdem klar: Sie würde immer wieder auf den Mast klettern.
     
    Zu gern hätte Skaia ins Innere der Burg gespäht. Aber die Fenster waren verspiegelt, und die Türen und Tore öffneten sich nur, wenn der Gute Herrscher einen seiner seltenen Empfänge gab. Dann durften die klügsten Wissenschaftler Solterras zu ihm. Meistens hatten sie gerade Bahnbrechendes wie Hirnreizer und Gefühlsblocker erfunden oder viel versprechende Methoden gegen Schlaflosigkeit entwickelt. Skaia hingegen würde sich damit begnügen müssen, sich die unzähligen Raumfluchten und ihre üppige Ausstattung vorzustellen ― oder die riesige Küche, in der eine Schar von Köchen die leckersten Gerichte bereitete. Heute stand bestimmt auf der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher