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Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)

Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)

Titel: Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Endl
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Speisekarte: „Alles außer Bohnen“.
    Wenn sie den Kopf nach Norden wandte, konnte sie einen der wenigen Wege entdecken, die aus der Hauptstadt hinaus ins Land führten. Als befestigte Bahnen zogen sie durch die vertrocknete Gegend, die zwischen Sol und den Nachbarstädten lag. Selbst wenn man bis zu den nächsten Orten hätte sehen können, nach Solstätt, Solöd, Sollerbü und Solenkirchen-Solertsbrunn, wäre einem dort nichts Nennenswertes aufgefallen, denn sie alle waren nach dem Muster der Hauptstadt geplant und erbaut.
    Drehte Skaia den Kopf noch weiter, sah sie nicht viel. Hinter dem Mast kamen nur noch die Häuser des höchstgelegenen Stadtteils und eine Mauer. Nicht einmal vom Sonnenmast aus konnte man dahinter blicken. Aber die Mauer besaß einen großen Vorteil. Sie gab den perfekten Horizont ab für die untergehende Sonne. Einen besseren Aussichtspunkt hatte Skaia noch nicht gefunden für das Spektakel, von dem sie magisch angezogen wurde: Die Sonne versank und stieg zugleich wieder auf. Kaum berührte sie im Westen als roter Ball den Boden, blitzte sie im Osten mit frischem Gelb daraus hervor. Hier sank sie satt und matt vom Wandern immer tiefer ein, dort machte sie sich gleich wieder auf in den Himmel. Zu beiden Seiten erstrahlte der Horizont, blendete mit buntem Farbenspiel, warf hier sein letztes, dort sein erstes Licht nach oben, schenkte den Wolken Kleider in rosa, orange, oft sogar lila. Die karge Natur Solterras schien Skaia zu diesem Zeitpunkt immer am lebendigsten. Fast meinte sie zu spüren, wie sich die Tiere und Pflanzen dem neuen Licht zuwandten. Vögel, die sich sonst verbargen, flogen über den Himmel. Und aus manchem Versteck hatte Skaia schon Mäuse, Füchse und Hasen hervorlugen sehen.
    Die menschlichen Bewohner Solterras verschliefen das Schauspiel. Sie konnten darin nichts Besonderes entdecken. Für sie war es einfach der Zeitpunkt, an dem der alte Tag zu Ende ging und der neue erwachte. Der Sonnenunter-Sonnenaufgang war nicht mehr als das Naturphänomen, mit dem der ewige Ablauf Morgen-Vormittag-Mittag-Nachmittag-Abend stets endete und von neuem begann. Beobacht- und berechenbar in all seinen Spielarten, die er über den Jahreslauf hinweg bot. Im Sommer stieg die Sonne steil übers Firmament und traf abends beinahe senkrecht auf die Erde. Im Winter huschte sie als blasser Ball flach über das Land und ließ sich schließlich sanft von ihm verschlucken. In diesen Monaten waren die Tage viel kürzer, und Skaia fiel es leicht, lange wach zu bleiben. Da war sie oft noch gar nicht müde, wenn überall in der Stadt die Stundenkugeln gongten und Stille einkehrte, weil die Menschen versuchten, einige Zeit zu ruhen.
    Wieder einmal konnte sich Skaia nicht entscheiden, ob sie lieber den Sonnenuntergang oder den Sonnenaufgang genießen wollte. Schließlich setzte sie sich so, dass sie aus den Augenwinkeln beides wahrnehmen konnte. Während sich die Sonne des vergehenden Tages gemächlich hinter die Mauer zurückzog, erwachte am anderen Ende der Stadt ein neuer Morgen. Skaia wandte sich ihm zu, doch bald musste sie vor lauter Helligkeit die Augen schließen. Über ihrem Kopf knackte der Lichttrichter. Er drehte sich der stärker werdenden Strahlung im Osten entgegen, und die Schläuche begannen aufgeregt zu zittern. Da gab es jetzt weit mehr Strahlen einzufangen als auf der Mauerseite. Wie viel war dort noch übrig vom leuchtenden Ball? Skaia blickte hinüber. Zu einem Drittel ragte die untergehende Sonne noch über die harte Steinkante, doch vor ihrem blutroten Licht war ein dunkler Fleck.
    Skaia studierte die Umrisse, die an ein Tier erinnerten. Oben zwei spitze Ohren auf einem schmalen Kopf, darunter der schlanke, elegante Schatten des Rumpfes und ein unruhig zappelnder Schwanz. Ja, es war eindeutig ein Tier, und es spähte zu Skaia herüber. Oder blickte es nur in die aufgehende Sonne, die hinter Skaia immer stärker strahlte? So dunkel, wie das Tier zunächst gewirkt hatte, schien es gar nicht zu sein. Skaia kniff die Augen zusammen, um es deutlicher zu erkennen. Aber da stürzte es plötzlich mit jämmerlichem Geheul ab. Hinter die Mauer.
    Es dauerte eine Schrecksekunde, bis sich Skaia auf die Leiter schwang. Dann aber nahm sie zwei Sprossen auf einmal, sprang den letzten Meter und rannte los. Die Straße war menschenleer. Stumm standen die Häuser in Reih und Glied. Die Beete der Gemeinschaftsgärten waren ordentlich abgedeckt ― bis Skaia hindurchrannte, um den Weg abzukürzen. Schon
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