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Prinzentod

Prinzentod

Titel: Prinzentod
Autoren: Beatrix Gurian
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oder was mir in der Schule Spaß macht. Meine Antworten scheinen ihn wirklich zu interessieren. Er lässt sich nicht mit Standardantworten abspeisen, sondern hakt nach. Ich erwische mich dabei, wie ich ihm erzähle, dass ich früher Eisprinzessin werden wollte, aber den Doppelaxel einfach nie geschafft habe, dass ich seit zehn Jahren Tagebuch schreibe, obwohl es mir mittlerweile albern vorkommt. Und dann gebe ich auch noch das notorisch unzufriedene Gesicht unserer Französischlehrerin Frau Biesler zum Besten, die immer dann am komischsten ist, wenn sie mit herabhängendem Trauermund und steinerner Stimme verkündet: »La vie est très belle.« Über meine Darbietung muss er so lachen, dass er beinahe den Karton fallen lässt. Aber als wir wieder hinuntergehen, macht er einen schweren Fehler. Er fragt mich allen Ernstes, ob ich auch Popstar bei DSDS werden will, wie so viele Mädchen.
    Ich zeige ihm empört einen Vogel und drehe mich weg von ihm, woraufhin er »hey, hey« in so einem »Ich krieg dich«Ton sagt, dass ich polternd die Treppen hinabstürme. Er folgt mir auf dem Fuß und singt erfundene Liedzeilen. So etwas wie »Silly Lissie kisses Willy« und anderen Blödsinn, bis ich so sehr lachen muss, dass ich nur noch stehen bleiben kann. Auf dem Treppenabsatz holt er mich ein und baut sich vor mir auf. Er hebt seine Hand, eine starke, relativ kleine Hand für so einen großen Mann, und nähert sie meinen Haaren. Dabei sieht er mich forschend an. Jetzt lacht er nicht mehr, sondern betrachtet konzentriert mein Gesicht, als stünde dort etwas Wunderbares geschrieben, das er lesen könnte, wenn er sich nur genug anstrengen würde. Ich spüre, dass mein Herz plötzlich viel schneller klopft, und das liegt nicht an der Rennerei. Seine Fingerkuppen streichen über mein Haar, stecken eine Strähne hinter mein Ohr. Ich muss schlucken, aber da ist gar kein Speichel. Er legt seine Hand unter mein Kinn und zieht es zu sich nach oben. Mir ist zittrig zumute, ich möchte mich setzen oder wegrennen oder kichern. Gleichzeitig scheinen alle zwanzig Kartons auf meine Brust zu drücken, denn ich kann kaum noch atmen, dabei atme ich doch so schnell. Seine grünen Augen verdunkeln sich, als würden Wolken über das Meer ziehen, Schattenwolken. Und die sind das Letzte, was ich sehe, bevor ich meine Augen schließe und nur noch fühle: die überraschend kühlen Lippen auf meinen, seine Hände, die nur leicht auf meinen Schultern liegen. Und unter meinen Händen, die ich gegen seine Brust gestützt habe, pulsiert sein Herz. »Hey, nicht«, presse ich hervor, und während ich das sage, weiß ich, dass ich es eigentlich nicht so meine, es ist wie ein Strudel, in dem das, was mein Kopf will, nicht mehr zählt, nur noch das, was ich fühle. Etwas unfassbar Aufregendes. »Das...das ist nicht richtig.« Ich taumele zurück, aber er folgt mir ganz selbstverständlich. »Es ist sogar völlig unmöglich«, sagt er und dann küsst er mich noch einmal. Ganz und gar unmöglich, denke ich noch, dann überschwemmt mich etwas, von dem ich bisher nichts wusste, so ein absolutes Verlangen nach mehr, nach ihm. Selbst wenn mein Leben auf dem Spiel gestanden hätte, ich hätte nicht aufhören können. Nicht in diesem Moment.

2. Blog
    Lange die Illusion gehabt, ein Kuss könnte mich erlösen. Was für ein lächerlicher Irrtum! Das Aufeinanderpressen von Lippen ändert nichts. Die anderen bleiben fern, so fern, als säße ich in einer Kugel aus Glas. Nein falsch, die anderen sind die in der Glaskugel. Ich dagegen stehe außen. Oder ist auch das nur ein Irrtum und hinter der Glasscheibe wartet wieder nur das Nichts? So wie bei den Babuschka-Puppen, in deren Hohlraum immer nur wieder der nächste bemalte Hohlraum steckt? Und ist der Tod auch nur das? Ein Hohlraum in einem Hohlraum in einem Hohlraum? Fragt Z

3. Kapitel
    U nfassbar, dass man so ruhig dasitzen kann, während der gesamte Körper in Aufruhr ist. Mein Bauch fühlt sich hohl an, mein Herz klopft viel schneller als sonst und meine Füße vibrieren auf dem heißen Asphalt, als müssten sie gleich um ihr Leben rennen. Und die Bedienung, die mich schon seit fünf Minuten ignoriert, wird sich allerhöchstens darüber wundern, dass ich die Karte so intensiv studiere, als stünde dort mein Todesurteil. Dabei ist es nur die riesige Eiskarte vom Dolomiti in der Tulbeckstraße, mit prächtigen Fotos aller Eisbecher. Ich starre auf die bunten Bilder und sehe nichts, ich blättere um und sehe wieder nichts.
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