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Principia

Principia

Titel: Principia
Autoren: Neal Stephenson
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Mr. Threader an das offene Land und erschnüffelte die Sitze vornehmer, adeliger Familien, wo er niemals erwartet wurde, aber stets willkommen war. Er führte keine Waren mit sich und erbrachte keine erkennbaren Dienstleistungen. Er hatte sich eher der Konversation verschrieben. Mehrere Stunden eines jeden Tages wurden auf das Reden verwendet. Nach jedem Gespräch zog er sich, fröhlich klirrend, in seine Kutsche zurück, schlug ein großes Buch auf – kein Hauptbuch (das wäre geschmacklos gewesen), sondern eine schlichte Kladde mit leeren Seiten – und nahm mit einem Gänsekiel ein paar kryptische Notate vor. Er lugte durch winzige Linsen auf sein Tagebuch und sah ein wenig wie ein Priester aus, der beim Schreiben die Heilige Schrift erfindet – ein Evangelist irgendeines Evangeliums, das zwar überaus nobel, aber gleichwohl heidnisch war. Diese Illusion schwand in dem Maße, wie sie sich (schließlich doch) London näherten und er sich auffälliger zu kleiden und mit Perücken abzugeben begann. Diese, die jeden anderen Menschen geschmückt hätten, waren bei Mr. Threader undurchdringliche Verkleidungen. Daniel führte das auf den Umstand zurück, dass es dem Mann völlig an Gesichtszügen fehlte. Bei genauerem Hinsehen konnte man in der Mitte des fleischigen Ovals, das auf Mr. Threaders Hals saß, eine Nase ausmachen und, von dort nach außen fortschreitend, die anderen Bestandteile entdecken, die ein Gesicht ergaben. Doch ohne solche sorgfältigen Beobachtungen war Mr. Threader eine fleischliche tabula rasa, wie das vom Tranchiermesser übriggelassene, frei liegende Kliff eines Roastbeefs. Zunächst hielt Daniel ihn für einen Mann von ungefähr sechzig Jahren, doch im Fortgang der Tage begann er zu argwöhnen, dass Mr. Threader älter war und dass das Alter, wie ein Affe, der einen Spiegel zu erklettern sucht, schlicht und einfach keinen Halt an diesem Gesicht gefunden hatte.
    Southampton war ein großer Seehafen, und da Mr. Threader offenkundig etwas mit Geld zu tun hatte, nahm Daniel an, dass man dorthin fahren würde – so wie er ein paar Tage zuvor auch angenommen hatte, man würde nach Bristol hineinfahren. Doch anstelle von Bristol hatte man eine Hyperbel um Bath beschrieben, und anstelle von Southampton streifte man Winchester. Mr. Threader, so schien es, fühlte sich wohler mit Städten, die von den Römern angelegt worden waren, und die neumodischen Hafenstädte waren in seinen Augen kaum besser als von piktischen Jäger-Sammlern aufgeworfene Erdhütten. Vor Salzwasser zurückschreckend, nahm man nunmehr Kurs nicht direkt auf Oxford, sondern auf eine Vielzahl winziger Orte zwischen Winchester und Oxford, von denen Daniel noch nie gehört hatte.
    Nun war es keineswegs so, dass Daniel gefangen gehalten wurde. Mr. Threader entschuldigte sich sogar mehr als einmal bei ihm und bot an, ihn in eine Mietkutsche nach London zu setzen. Doch das bestärkte Daniel nur darin, die Sache in derzeitiger Gesellschaft zu Ende zu bringen. Zum Teil war das, erstens, eine Stilfrage. Aus Mr. Threaders ausgezeichneter Equipage zu springen und in einer schäbigen Mietkutsche nach London davonzubrausen hieße zuzugeben, dass er es eilig hatte, was man in Mr. Threaders Kreisen einfach nicht tat. Zweitens hatte er sich ohnehin Sorgen gemacht, dass er steife Knie bekommen würde, wenn er gezwungen wäre, längere Zeit zu sitzen; was man in einer leistungsfähigen Kutsche axiomatisch voraussetzen konnte. Das gemächliche Reisetempo Mr. Threaders war genau das, wofür er sich selbst entschieden hätte, wenn ihm die entsprechende Entscheidungsbefugnis zugebilligt worden wäre. Drittens hatte er es ohnehin nicht eilig. Dem zufolge, was Enoch Root ihm in Boston anvertraut hatte, war seine Herbeirufung durch die Prinzessin nur ein einzelnes Stäubchen in einem Sturm von Betriebsamkeit, der im Spätfrühling und Frühsommer des zurückliegenden Jahres am Hof von Hannover losgebrochen war, nachdem die Unterzeichnung des Vertrages von Utrecht den Spanischen Erbfolgekrieg beendet und sämtliche Fürsten und Parlamente Europas dazu gebracht hatte, darüber nachzudenken, was sie mit dem Rest des achtzehnten Jahrhunderts anfangen wollten. Caroline konnte zur Prinzessin von Wales gemacht werden, und Daniels Auftrag konnte plötzlich höchste Bedeutung und Dringlichkeit erlangen, wenn zwei Personen stürben – Königin Anne und Sophie. Vielleicht hatte Caroline seinerzeit Grund gehabt, mit Ersterem zu rechnen und Letzteres zu fürchten.
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