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PR 2661 – Anaree

PR 2661 – Anaree

Titel: PR 2661 – Anaree
Autoren: Uwe Anton
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suchte.
    »Immer zu spät«, sagte es atemlos. »Immer bin ich zu spät dran! Verflixt und zugenäht!«
    Eilig klopfte es den Sakko ab, zerrte an der Kette und zog eine goldene Taschenuhr heraus. Mit geübtem Handgriff klappte es den Deckel auf.
    »Schon wieder zu spät«, klagte es laut.
    Tara Marate zielte mit dem Bogen, doch das Kaninchen hüpfte zur Seite und verschwand, als hätte es nie existiert. Einen Augenblick später tauchte es einige Meter entfernt wieder auf. »Vielen Dank, mein Herr, dass Sie mir die Richtung gewiesen haben!«, sagte es zu dem Jäger.
    Anaree blinzelte, und das weiße Kaninchen war erneut verschwunden. Sie blinzelte noch einmal, und es stand in seinem karierten Sakko direkt vor ihr. Scheinbar erleichtert sah es Anaree an. »Da sind Sie ja endlich, meine Liebe! Ich dachte, Sie würden gar nicht mehr kommen! Aber leider ...« Es sah auf die Taschenuhr. »Wie ich vermutet habe! Zu spät! Sehen Sie?«
    Das Kaninchen hielt Anaree die Taschenuhr entgegen. Ihr Zifferblatt war übersät mit Zahlen in vielfältigen Größen und Schreibweisen. Stunden-, Minuten- oder Sekundenzeiger fehlten allerdings gänzlich.
    »Ich sehe nichts«, sagte Anaree leise.
    »Ts-ts!«, machte das Kaninchen. »Wenn man nichts sehen will, kann man dies auch nicht, nicht wahr? Sie geben wahrscheinlich mehr auf den Schein als auf das Sein, nicht wahr, meine Liebe?«
    Anaree runzelte die Stirn. »Was erwarten Sie von mir?«
    »Ich erwarte den morgigen Tag«, sagte das Kaninchen, »aber das tut nichts zur Sache! Sie müssen mir nur folgen, meine Liebe. Ich bringe Sie sogleich hin! Auch wenn mich das alles furchtbar langweilt. Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich dieses Gespräch schon geführt habe. Und wie oft ich es noch führen werde.«
    Es richtete die großen Ohren auf. »Und wie schrecklich das für mich ist. Die meisten Delinquenten stellen dieselben Fragen und geben dieselben Antworten. Und das heißt, all diese Gespräche laufen nach demselben Muster ab. Manchmal sogar mit denselben Worten. Aber das ist nun mal mein Schicksal. Man kann es sich nicht aussuchen. Wer für Höheres bestimmt ist, muss eben leiden.«
    »Wohin wollen Sie mich bringen?«
    »Keine Zeit, keine Zeit!«, jammerte das Kaninchen und wirbelte herum, als wolle es davonrennen.
    »Ich werde Ihnen nirgendwohin folgen«, rief Anaree, »wenn Sie mir nicht verraten, was hier gespielt wird!«
    »Sie müssen mich jetzt nach meinem Namen fragen!«, rief das Kaninchen.
    »Was?«
    Das Kaninchen drehte sich wieder zu Anaree um. »Es ist immer dasselbe. Ich werde Sie jetzt fragen, ob Sie Ihre Tat bereuen, und Tara Marate wird versuchen, mich zu ermorden, obwohl unser Verhältnis eigentlich ganz und gar nicht geklärt ist. Sie werden sich als starrköpfig erweisen und etwas von freiem Willen und so weiter faseln, und meine Aufgabe ist damit erfüllt. Sie haben alle Chancen bekommen, die Sie verdienen. Können wir das vielleicht etwas beschleunigen, meine Liebe? Wir haben wirklich keine Zeit!«
    »Wer sind Sie?«, fragte Anaree.
    »Das werden Sie erfahren, wenn es zu spät ist. Und selbst dann werden Sie mir nicht glauben, meine Liebe. Also? Der alte Jäger wird jetzt auf mich schießen, nicht wahr? Oh, wie mich das alles langweilt ...«
    Das Kaninchen klaubte die Uhr hervor und öffnete sie. »Gerade noch rechtzeitig! Aber nun muss ich mich beeilen – der Hutmacher erwartet mich zum Tee!«
    Tara Marate schrie laut auf, und Anaree fuhr herum und sah, dass der alte Jäger den Bogen gespannt hatte und schussbereit war. Sie saugte verzweifelt die Luft in die Lungen, als die Ohren des Kaninchens noch größer wurden und sich in hoch abstehende Löffel verwandelten. Und seine beiden flachen Zähne plötzlich schräg und spitz zu den Seiten ragten wie richtige Fangzähne.
    Das Kaninchen grinste sie lauernd an und machte einen Satz auf sie zu. Anaree roch plötzlich einen widerwärtigen, fauligen Atem – den eines Raubtiers, nicht den eines Pflanzenfressers.
    Die Luft in ihren Lungen brannte wie Feuer.
    Wie jenes Feuer, das sie verbrannt hatte, als sie auf den Baum geklettert war.
    Sie schrie auf.
    Das Kaninchen griff nach ihr, und sie warf sich zur Seite. Sie spürte die Berührung einer pelzigen Hand an ihrer Schulter, das Kratzen scharfer Klauen.
    Das ist kein Spiel mehr!, wurde ihr klar. Das ist blutiger Ernst!
    Aber alles würde vorbei sein, wenn es dem Kaninchen gelang, sie zu töten.
    Nein!, dachte sie. Deshalb bin ich nicht auf den Baum gestiegen!
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