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PR 2661 – Anaree

PR 2661 – Anaree

Titel: PR 2661 – Anaree
Autoren: Uwe Anton
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was ist ein Jahr? Ich bin Tagvolk, und das Tagvolk kennt keine Jahre. Wie kann ich dann fünf Jahre alt sein? Und woher weiß Tara überhaupt, was ein Jahr ist?
    Anaree grub den Stock tiefer in den Sand und weitete die Furche aus. Zuerst floss das Wasser des Flusses nur langsam in den schmalen Kanal, den sie gebaut hatte, dann sprudelte es schneller, riss immer mehr kleine Körner mit sich, bahnte sich einen Weg.
    Wie sollte ich geboren worden sein? Jedenfalls erzählt mir keiner davon, und erinnern kann ich mich daran auch nicht.
    Aber woran konnte sie sich schon erinnern? An den letzten Tag und an den vorletzten und an den davor. Und an Tara und Wila und Siroe und all die anderen. Tara war ihr bester Jäger. Er brachte regelmäßig Fleisch. Aber an mehr?
    Mehr gab es nicht. Nur das Tagvolk und den Fluss und den Sand und die Ebene.
    Und die Tiere, die Tara jagte, und das Getreide und die Früchte, die ringsum wuchsen, und den Himmel und die Morgenschwester. Auch wenn sie die noch nie gesehen hatte. Aber die anderen erzählten viel von ihr.
    Wenn sie also länger darüber nachdachte, gab es ziemlich viel, woran sie sich erinnerte und was sie wusste.
    »Aber was sind Jahre?«, flüsterte sie und schaute zu dem verbotenen Baum am Flussufer hinüber. Mal hingen seltsame Anzüge an seinen Ästen, die ganz schwarz und düster waren oder rot oder gelb oder blau und leuchtend. Dann wieder kleine, bunte Steine, die hell im Licht der Sonne funkelten.
    Diesmal baumelte am untersten Zweig des Baums ein blauweißer Kristall, groß wie eine Nuss oder eine kleine Frucht.
    Nein, dachte sie. Ich werde verbrennen, wenn ich ihn anfasse. Alle sagen, dass ich verbrennen werde. Also werde ich ihn nicht anfassen.
    Die Morgenschwester hatte ihnen verboten, die Anzüge oder Steine zu berühren, und das Tagvolk hielt sich daran.
    Meistens. Anaree hatte niemals erlebt, dass jemand gegen das Tabu verstieß, aber manchmal, in den leeren Stunden, flüsterten die Alten des Tagvolks, dass früher einmal, viel früher, jemand zum Baum gegangen war und ...
    Anaree fröstelte, obwohl die Sonne hoch am Himmel stand. Sie wagte es nicht, sich an das Wispern zu erinnern, und beobachtete wieder das sprudelnde Wasser.
    Nur ein paar Herzschläge lang. Warum hing der Kristall dort, wenn sie ihn nicht anfassen durfte? Warum leuchtete er so hell? Warum strahlte er geradezu, flüsterte ihr zu: Komm! Nimm mich! Berühre mich! Ich bin dein!
    Und warum hörte kein anderer aus dem Tagvolk den lockenden Gesang, sondern nur sie? Wieso war sie anders als die anderen?
    Sie zeichnete mit ihrem Stock Bilder in den feuchten Sand des Flussufers, gab dann jedoch wütend auf. Ganz egal, wie weit entfernt vom sprudelnden Wasser sie malte, die Strömung schien jedes Mal die Richtung zu verändern und zuerst nur wenige, dann immer mehr Tropfen genau dorthin zu leiten, wo sie mit dem Stock grub.
    Nein, dachte sie und schaute wieder zu dem Baum. Ich werde nicht ...
    Sie schnappte nach Luft und dachte gar nichts mehr, als ein Schatten auf das neu geritzte Bild und den Stock fiel. Langsam drehte sie den Kopf und sah hoch. Sie fühlte sich ertappt.
    Die Morgenschwester will mich warnen! Ich sehe zu dem Baum, zu dem blauweißen Kristall, und jemand kommt und weiß ... und weiß, dass ich das Juwel anfassen will.
    Sie schluckte heftig, bekam den Speichel aber nicht hinunter. Natürlich war er es. Wer auch sonst?
    Tara Marate, der beste Jäger der Gemeinschaft. Als sie zum ersten Mal zu dem Kristall geschaut hatte, hatte sie schon gewusst, dass er kommen würde.
    Tausende fein verknüpfte Zöpfe hingen reglos über Taras weiß schimmerndem Gesicht und dem nackten Oberkörper. Um die Hüfte hatte er ein dünnes Fell gebunden.
    Er musterte sie streng, hob dann den Kopf und sah zum Baum, und zwischen den dünnen, glänzenden Zöpfen machte Anaree absolut schwarze Augen aus.
    Sie erkannte Weisheit in ihnen. Tara war der Stammesälteste des Tagvolks, und plötzlich fürchtete sie sich vor ihm. Sie konnte den Blick nicht von den drei geschwungenen Linien lösen, die sich beidseitig über seine nur angedeutete Brustmuskulatur erstreckten. Ihre Anordnung erinnerte Anaree an die Darstellung eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln.
    Anaree hatte Tara oft bewundernd angesehen und wusste, dass die Linien nicht etwa mit Farbe aufgetragen waren, sondern in die Haut eingeritzt. Das war keine Körperbemalung, das waren Ziernarben. Sie fragte sich, ob sie irgendwann auch einmal solche Narben bekommen
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