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Portugiesische Eröffnung

Portugiesische Eröffnung

Titel: Portugiesische Eröffnung
Autoren: Jenny Siler
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Sie drüber«, sagte Valsamis zuversichtlich. »Ich komme morgen früh wieder.« Mit diesen Worten verließ er mein Haus.

Vier
    Nachdem Valsamis gegangen war, schenkte ich mir ein Glas Wein ein und setzte mich mit Lucifer auf die Terrasse hinter dem Haus. Es war ein kalter Abend, die Wärme des Tages verschwunden. Am Himmel stand ein fetter Vollmond, der wie eine silberne Münze auf den gegenüberliegenden Hügeln thronte. Dichter Nebel hatte sich wie ein dickes Kissen ins Tal gelegt, und in der Ferne waren einzelne Lichter in Häusern zu erkennen, die in der Dunkelheit zu mir herüberzwinkerten. Die Stadt war als verwischter Fleck auszumachen. Nur die Kirche auf dem Hügel tauchte aus dem Nebel empor, die uralten Fenster von orangefarbenem Licht erfüllt, das steinerne Fundament von Wolken gesäumt. Von fern blickte ihr rauerer Doppelgänger, das Chateau d’Aguilar, von seiner luftigen Insel herunter.
    Ich hatte mir mein Leben anders vorgestellt, es inzwischen aber schätzen gelernt. Den immer gleichen Rhythmus der Tage. In meinem Garten, dessen Beete für den Winter abgedeckt waren, kannte ich die Gestalt aller Blumen, die demnächst wachsen würden. Zuerst die Zwiebelgewächse, Krokusse und Tulpen, danach das leuchtende Rot des Klatschmohns. Als Nächstes folgten Blau und Weiß, die hoch aufragenden Blütenspeere des Rittersporns. Im Juli dann das leuchtende Gelb und Rot der Taglilien, bevor im August der rosa Phlox erblühte.
    An meinem ersten Tag im Gefängnis Maison des Baumettes in Marseille hatte meine Zellengenossin Céline auf ein Foto gedeutet, das über ihrem Bett hing. Es war leuchtend bunt und zeigte ein kleines Mädchen, das auf einer Spielplatzschaukel aus schwarzem Gummi balancierte.
    »Such dir etwas«, hatte sie gesagt und auf das Kind gezeigt, dessen Füße mit den roten Sandalen und den rosa lackierten Nägeln in der Luft baumelten. Daneben hing ein weiteres Foto, auf dem ein Mann an einem Auto lehnte, die Füße lässig überkreuzt, die Hände in den Taschen, das Hemd über der Hose. »Wenn du das hier überstehen willst, dann such dir etwas.«
    An diesem Abend lag ich im Halbdunkel des Gefängnisses und horchte auf die Geräusche aus dem Zellenblock, das Klappern der Schlüssel, das gedämpfte Reden der Wärter, den langsamen Atem aus hundert Lungen. Such dir etwas, hörte ich Céline sagen, doch für mich hatte es nichts gegeben. Kein Hochglanzfoto, kein Mädchen auf einem grünen Rasenfleck. Ich war allein. Meine Großeltern hatte ich vor mehreren Jahren verloren, meine Tante war kurz darauf an Krebs gestorben.
    Ich brauchte fast ein Jahr, um einen Schnappschuss zu finden, mit dessen Hilfe ich die Haft überstehen konnte, und am Ende war es nicht das Bild eines Geliebten oder eines Kindes gewesen, sondern das eines Ortes. Weniger als ein Ort, nur die Erinnerung daran. An eine Stadt, in der ich vor Jahren gewesen war; mit siebzehn hatte ich dort bei der Weinlese geholfen. Ein kleines Tal in den Pyrenäen. Ein hell erleuchtetes Café mit rissigen grünen Wänden. Gepflasterte Straßen, die bergauf zu einer Kirche führten. Das hatte ich mir für den Tag versprochen, an dem ich die sechs langen Jahre in dem grauen Bienenkorb des Gefängnisses überstanden haben würde.
    Als sich am letzten Tag die Türen für mich öffneten, war ich geradewegs zur Gare St.-Charles gegangen. Von dort führte mein Weg nach Genf zu einer Bankfiliale in der Rue du Rhône und einer Metallschublade, die alles enthielt, was ich zurückgelassen hatte. Die wenigen Dinge, die mir meine Tante vermacht hatte, Bilder aus einer anderen Zeit und die Briefe, die sie und meine Mutter sich im Laufe der Zeit geschrieben hatten. Dazu Bargeld, genug, um ein altes Bauernhaus mit einer grauen Steinmauer und einem Hühnerstall zu kaufen. Mit einem Garten, umgeben von Unterholz und Kalksteinhügeln. Mit Eiern, die so frisch waren, dass sie in der kalten Morgenluft dampften. Diesen Ort hier. Hier löste ich das Versprechen ein, das ich mir selbst gegeben hatte und das ich seit langem hielt. Das Versprechen, nie wieder ins Gefängnis zu müssen.
    Alles, was ich auf der Welt besaß. Was hatte Valsamis doch gleich gesagt? Es wäre eine Schande, das hier zu verlieren.
    Lucifer reckte die Nase in den Wind und jaulte. Der Wolf in ihm reagierte auf die wilde Duftmischung, die die Nacht herbeiwehte. Feuchter Rosmarin und Wacholder. Die Mäuse in der Hecke, das Stinktier in der alten Kiefer.
    »Viens.« Ich klopfte auf meinen Schenkel, und der
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