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Poor Economics

Poor Economics

Titel: Poor Economics
Autoren: Abhijit Banerjee , Esther Duflo
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sie wieder zurück ins Gesundheitszentrum. Sie stempeln aus. Sie setzen sich in den Bus nach Hause, wo sie zwei Stunden später ankommen.
    Es ist klar, dass das kein Mensch auf Dauer aushält. Deshalb erwartete auch niemand von den Krankenschwestern, dass sie ihren Job genau nach der Arbeitsplatzbeschreibung ausfüllen. Doch was sollen sie dann tun? Die Krankenschwestern müssen ihre Regeln selbst festsetzen können. Im Lauf unseres Gesprächs mit ihnen machten sie uns nachdrücklich klar, dass wir unmöglich von ihnen verlangen könnten, vor zehn Uhr am Arbeitsplatz zu erscheinen. Das Zentrum öffnete offiziell, laut Aushang auf der Außenseite, um acht Uhr.
    Natürlich waren die Vorschriften nicht mit dem Ziel gemacht worden, die Leistungsfähigkeit des gesamten indischen Gesundheitswesens zu untergraben. Vermutlich hatte sie ein wohlmeinender Verwaltungsbeamter zu Papier gebracht, der seine eigene Auffassung von den Aufgaben des Systems besaß und den es herzlich wenig interessierte, was das vor Ort bedeutete. Hier kommt wieder das Phänomen zum Tragen, das wir kurz als die »drei I« bezeichnet haben: Ideology (zementierte Vorstellungen) , Ignorance (Unwissenheit) , Inertia (Trägheit). An diesem Problem kranken viele Versuche, den Armen zu helfen.
    Der Arbeitsbelastung der Krankenschwestern liegt eine Vorstellung
( Ideology ) zugrunde, die in ihnen hingebungsvolle Sozialarbeiterinnen sieht, sie wurde in Unkenntnis ( Ignorance ) der Verhältnisse vor Ort festgeschrieben und sie besteht aus Trägheit ( Inertia ) weiter, zumindest auf dem Papier. Möglicherweise reicht es nicht aus, die Vorschriften so zu ändern, dass diese Arbeit zu leisten ist, aber es wäre ein notwendiger erster Schritt.
    Dieselben drei I haben in Indien auch Bemühungen zunichtegemacht, Eltern und Schülern eine gewisse Kontrolle des Schulbetriebs zu ermöglichen. Mit der letzten großen Schulreform wollte die Regierung mehr Elternbeteiligung bei der Aufsicht über die Primarschulen erreichen. Durch das Sarva-Shiksha-Abhiyan -Programm (»Bildung-für-alle-Bewegung«) sollte die Qualität der Bildung von Staats wegen massiv gefördert werden: Es war gedacht, dass die Dörfer »Dorfbildungskomitees« ( village education committees, VEC) bilden, die den Schulbetrieb unterstützen, sich über Verbesserungen der Unterrichtsqualität Gedanken machen und auftretende Probleme melden sollten. Insbesondere hatten die VECs das Recht, Anträge auf Gelder für zusätzliche Lehrer zu stellen, und wenn die Gelder bewilligt wurden, waren sie befugt, Lehrer einzustellen und – wenn nötig – auch wieder zu entlassen. Das sind bedeutende Befugnisse angesichts der Tatsache, dass Lehrer nicht billig sind. Fünf Jahre nachdem das Programm angelaufen war, führten wir im Distrikt Jaunpur (er liegt im bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat Uttar Pradesh) eine Befragung durch und stellten fest, dass 92 Prozent der Eltern noch nie etwas von Dorfbildungskomitees gehört hatten. Darüber hinaus waren 25 Prozent der Eltern, die in einem VEC Mitglied waren, sich dessen überhaupt nicht bewusst, und von denen, die es wussten, hatten knapp zwei Drittel keine Ahnung vom Sarva-Shiksha-Abhiyan -Programm und ihrem Recht, Lehrer einzustellen.
    Wir haben hier ein klassisches Drei-I-Problem: Beflügelt von der Vorstellung ( Ideology ) »Macht beim Volk ist gut« wurde ein Programm entwickelt, ohne zu wissen, was die Menschen wollen und wie Dörfer funktionieren ( Ignorance ); ein Programm, das
zu dem Zeitpunkt, als wir es untersuchten, nur noch aus Trägheit ( Inertia ) aufrechterhalten wurde. Viele Jahre lang hatte sich niemand dafür interessiert, mit Ausnahme eines Verwaltungsbeamten irgendwo, der darauf achtete, dass alle Punkte auf der Checkliste abgehakt waren.
    Wir taten uns mit Pratham zusammen, der indischen Nichtregierungsorganisation, die sich auf Bildung spezialisiert hat und für den jährlichen Bildungsbericht sowie das Programm zur Leseförderung verantwortlich zeichnet, über die wir in Kapitel 4 gesprochen haben. Wir dachten, man könnte den Dorfbildungskomitees neues Leben einhauchen, wenn man die Eltern über ihre Rechte aufklärt. Pratham schickte Mitarbeiterteams in 65 zufällig ausgewählte Dörfer, um die Eltern über die Möglichkeiten, die sich aus dem Programm für sie ergeben, zu informieren und sie zu mobilisieren. 35 Die Pratham -Mitarbeiter hegten Zweifel, ob es sinnvoll sei, den Menschen einfach nur zu erzählen, was sie tun können, ohne
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