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Polt - die Klassiker in einem Band

Polt - die Klassiker in einem Band

Titel: Polt - die Klassiker in einem Band
Autoren: Haymon
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vor Jahrzehnten heftig pubertierend in Aloisia Habesams Kaufhaus eines jener Magazine zu erwerben begehrt hatte, die Frauen mit entblößten Schultern zeigten und mit herausfordernd verhüllten Brüsten. „Da hast, Bub“, hatte die Kauffrau milde lächelnd gesagt, „sollst ja was lernen.“
    „Man lernt nicht aus“, murmelte Polt und grinste schon wieder verwegen. Fast genierte er sich, zu einem ungeahnten Ereignis wie diesem mit seinem alten Fahrrad anzureisen, doch es fiel ihm nichts Besseres ein. Robert Reuter empfing ihn mit herzlicher Selbstverständlichkeit. Er bat seinen Besucher ins Haus und ließ ihn, umgeben von vielen Büchern und dunklem Holz, in einem mit rotem Leder bespannten Lehnstuhl Platz nehmen. Robert Reuter betrachtete Polt ruhig. Unvermutet lächelte er. „Sie sind also bereit?“
    „Wozu?“
    „Zur Erkenntnis im Vergessen.“
    „Versteh nicht.“
    „Zu verstehen verlangt niemand von Ihnen. Aber einen Schritt müssten Sie tun. Einen großen Schritt.“
    „Welchen?“
    Robert Reuter lehnte sich bedächtig zurück. Sein Gesicht erinnerte Polt an das Bild des Weihnachtsmannes, das er einmal in einem Kinderbuch gesehen hatte: eine rote, fleischige Nase, rote Wangen, und lustige, listige Augen, wild umwuchert von weißem Haar. „Ich darf ein wenig ausholen, mein Guter, wir haben Zeit, viel Zeit. Das Baccha­nal ist ein altrömisches Trinkgelage in der Tradition des Kultes um den Griechengott Dionysius, nur derber, sinnlicher, schmutziger: Der Mensch mutiere zum Tier, damit er die Götter eintreten lasse. Dieses goethesche Stirb und Werde ist es, mein Sohn! Die Seele verliert sich in ahnungsvoller Weite, das Bewusstsein vermählt sich mit Fremdem, das Fremde ist vertrauter als das Eigene. Der Mensch entdeckt in sich jenes Wesen, das er sein könnte, er nähert sich den Göttern, wird Gott.“
    „Das ist mir zu hoch.“
    „Weil deine Gedanken zu Fuß gehen, Simon Polt, statt zu fliegen. Heute bist du eingeladen, den Schritt in den Abgrund und über den Abgrund zu tun. Nur heute und dann nie wieder.“
    Polt spürte ein Kribbeln im Nacken. „Und wie geht das?“
    Robert Reuter griff hinter sich und stellte einen mächtigen Humpen mit dunkler, fast schwarzer Flüssigkeit auf den Tisch. „Nunc est bibendum!“
    „Was heißt das?“
    „Den Becher leeren, bis nur Neige.“ Reuters Weinachtsmann-Augen glitzerten wie blankes Eis. „Bibe, propudium!“
    Polt griff zu und hob das Glas. Ein Geruch von schwerem, süßem Wein, versetzt mit Gewürzen, stieg ihm in die Nase. Er trank und trank und trank.
    Später fand er sich unter Leuten wieder, die er kannte, aber so nicht kannte. Frau Reuter, in wallende weiße Tücher gehüllt, ließ es an nichts fehlen, in wonnigem, wohligem Übermaß. Alle redeten, redeten miteinander, redeten nebeneinander her und vor sich hin, auch Polt redete, redete über Dinge, an die er vordem nicht einmal gedacht hatte. Leicht und frei war ihm zumute, auch noch in jenem Augenblick, der alles auslöschte.
    Polt wachte am Nachmittag des folgenden Tages auf und hatte es schwer damit, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Stechende, hämmernde Kopfschmerzen halfen ihm dabei. Er lag angekleidet auf seinem Bett. Er versuchte sich aufzurichten, doch Schwindel zwang ihn nieder, heftige Übelkeit stieg in ihm hoch. Dann erst nahm er das energische Klopfen an der Tür wahr. Er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Endlich wurde die offenbar unversperrte Tür geöffnet und Grete Hahn trat ins Zimmer. Sie ging auf Polt zu. „Verdammt, Sie Ärmster! Schwer gezeichnet und dem Tode nahe …“ Sie schaute sich um. „Da ist Erbrochenes vor dem Badezimmer. Ich wisch das auf. Macht mir nichts aus.“ Sie tat ihre Arbeit, wusch sich die Hände und öffnete den Kühlschrank. „Na also. Da steht ja ein Rollmopsglas. Vor drei Wochen abgelaufen, also feinste Frischware von der Frau Habesam.“ Grete Hahn stellte ein Tablett auf Polts Nachttisch. „Da, essen Sie. Und trinken Sie Wasser, viel Wasser, ganz ungeheuer viel Wasser. Das hilft, glauben Sie mir. Und sobald Sie ohne größere Zwischenfälle auf die Beine kommen, machen wir einen Spaziergang. Frische Luft muss sein.“
    Eine gute Stunde später blieb Frau Hahn am Ufer des Wiesbaches stehen und gab ihrem Begleiter einen leichten Rippenstoß. „Geht’s wieder, ich mein, irgendwie?“
    „Ja. Und ich bin ja so was von einem Trottel, Frau Hahn.“
    „Darüber reden wir ein anderes Mal. Was war?“
    „Der Robert Reuter
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