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Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)

Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)

Titel: Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Autoren: Nicola Förg
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Unterricht aus. Der junge Herr Kaplan musste aber bald nach der Christnacht gehen, ein Sozialist sei er, wurde geraunt. Was ist ein Sozialist? Ist ein Mann Gottes ein Sozialist?
    »Schneewittchen ist schon tot«, sagte Benedikt. Dabei klang er altklug wie immer, und Julia atmete auf.
    Sie selbst war schon wieder tausend Tode gestorben, weil Bene sich einmal mehr von der Gruppe abgesetzt hatte. Der Junge war eine Katastrophe, er schien osmotisch durch Wände diffundieren zu können. Man hatte ihn gerade noch im Blick, und eine Sekunde später war er verschwunden. Fand man ihn dann doch irgendwann, sagte er gerne: »I hob mi verzupft.« Das hatte er vom Allgäuer Opa, »der, wo in Trauchgau residiert«. Bene sagte wirklich »residiert«, der Opa schien ein relativ großes Haus zu haben. Julia beneidete weder Benes Eltern noch seine zukünftigen Lehrer. Bene beneidete sie auch nicht. Das war ein Kind, das anecken würde, ein allzu wacher Geist und ein Übermaß an Phantasie verunsicherten den Rest der dumpfen Welt.
    »Benedikt, wo warst du schon wieder?« Julia versuchte streng zu klingen.
    »Julia«, er ahmte die Stimme der Erzieherin nach, »ich habe doch gesagt, dass ich das tote Schneewittchen besuchen muss.«
    In diesem Moment kam ihre Kollegin Lea zurück. Sie wirkte immer etwas überfordert und hatte offenbar das Elend der ganzen Welt auf ihre schmalen Schultern geladen.
    »Diese Regina von Braun ist nirgendwo«, jammerte sie. »Die Haushälterin weiß auch nicht, wo sie steckt.«
    »Oh, du liabs Herrgöttle«, kam es von Benedikt, und er schlug sich theatralisch die Hand auf die Stirn.
    Das hatte er bestimmt auch vom Trauchgauer Opa. Julia unterdrückte das Grinsen, wies Bene zurecht und wandte sich an die Kollegin: »Vielleicht ist sie schon zu den Gehegen gegangen und füttert die Tiere. Wir gehen einfach mal runter.«
    Gehen war allemal eine gute Idee, denn es hatte höchstens null Grad an diesem Morgen. Die Zwergentruppe war nur deshalb vergleichsweise ruhig, weil sie Kakao und Kekse bekommen hatte. Julia begann die Becher einzusammeln, überprüfte, dass jedes Kind seinen Rucksack hatte, und erklärte den Kleinen, dass sie nun ganz leise sein müssten, um die Tiere nicht zu erschrecken. »Pst«, machte sie, was augenblicklich eine ganze Woge von »Pst«-Geräuschen hervorrief – in der Lautstärke eines Düsenjets. Unter abflauenden »Psts« marschierten die Kinder in Zweierreihen hinter Julia her, hinein in den Wald, vorbei an einem Schild, das in Richtung Wildgehege deutete.
    Julias Kindergartengruppe hatte am Morgen eigentlich einen Termin bei Dr. Regina von Braun. Die Biologin besaß ein Gut, das sie – wie man sich erzählte – mehr als Bürde denn als Würde ererbt hatte. Um es am Leben zu erhalten, hatte sie ein Walderlebniszentrum initiiert. Julia war die Eigentümerin nicht ganz unbekannt, weil Regina von Braun gern in Kindergärten vom Wald und seinen Bewohnern erzählte und dabei auch mal eine Eule mitbrachte oder einen Greifvogel. Sie war nämlich nicht nur Biologin, sondern auch Jägerin und Falknerin, und das wenige, was Julia von ihr wusste, war, dass ihre Tage offenbar mehr als vierundzwanzig Stunden hatten. Heute sollten die Kinder zwei zahme Elche und einige Rentiere besuchen. Das war natürlich eine Sensation im Oberland, ein echter Elch!
    Nach fünf Minuten erreichten sie eine Lichtung. Die Sonne stand schon höher am Himmel und beleuchtete eine große Erklärungstafel und eine Sitzgruppe aus dickem Holz. Das Gehege lag dahinter, rechts davon stand ein großer Schuppen mit einer Schubkarre davor, die ein wenig vereinsamt wirkte. Bevor Julia ihn noch am Kapuzenzipfel erwischen konnte, sauste Benedikt davon, am Zaun entlang, hinüber zum Schuppen und hinein durch ein hohes Stahltor, das er öffnete, als habe er nie was anderes getan. Lea brüllte ihm ein verzweifeltes »Benedikt!« hinterher, Julia stöhnte. Es hätte so nette Jobs im Büro gegeben, bei Krankenkassen oder Behörden – warum nur hatte sie sich als Zwergenbezwingerin verdingt?
    »Ihr bleibt hier und schaut euch schon mal mit Lea die Bilder auf der Tafel an. Ich hole den Bene, vielleicht ist Frau von Braun ja auch noch in dem Schuppen.«
    Julia eilte zu dem Tor, das überraschend leichtgängig war. Der Schuppen entpuppte sich als Unterstand mit einem gewaltigen Vordach. Frische Hackschnitzel waren ausgebreitet, es duftete nach Holz. Benedikt stand da und betrachtete interessiert den Boden.
    Dort lag Regina von Braun. Ihre
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