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Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall

Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall

Titel: Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Autoren: Bernd Franzinger
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zwischen seine Vorderzähne und klemmte dadurch den Metallbügel ein. Dann nahm er die beiden Pistolen von der Kühlerhaube und steckte sie sich von hinten in den Gürtel seiner Jeans. Anschließend entfernte er das merkwürdige Ding wieder vorsichtig aus seinem Mund.
    »Wie ihr unschwer erkennen könnt, lebt Kerstin Müller noch«, sagte Mattissen und deutete mit seiner silbernen Pistole auf die Frau, die in einem Rucksack, den Tannenberg unwillkürlich mit Fallschirmspringern in Verbindung brachte, an der verwitterten Felswand hing.
    Der Rucksack umspannte den Oberkörper des Opfers mit kräftigen Quer- und Längsgurten und wurde zusätzlich auf der Vorderseite von einem breiten roten Reißverschluss zusammengehalten. Dicht auf dem Felsen anliegend war ein blauer Spanngurt von hinten am Rucksack befestigt. Durch diese Aufhängung waren die Schultern der Frau hochgezogen worden, während der Körper gleichzeitig etwas nach unten abgesackt war. Darin lag wahrscheinlich auch die Erklärung begründet, weshalb der Kopf zum Brustkorb hin so stark abgeneigt war. Der Oberkörper hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus. Das Gesicht war schweißnass, nicht entstellt, sondern friedlich entspannt. Und ihr steckte auch kein Pilz in der aufgeschlitzten Kehle. Allerdings hing an ihrem Hals ein mittelgroßer Fliegenpilz an einer naturbraunen Sisalkette.
    »Damit ihr euch eurer Verantwortung noch ein bisschen stärker bewusst werdet, hab ich dieses medizinische Überwachungsgerät hier aufgebaut, auf dem ihr den Herzschlag der Dame ablesen könnt. Ein Fehler von euch und der Monitor zeigt eine Nulllinie an. Die Frau liegt im künstlichen Koma, ist aber ansonsten unversehrt«, sagte Mattissen, während er auf einen von zuckenden Linien und wechselnden Ziffernfolgen beherrschten Bildschirm deutete, wie ihn Tannenberg vom Krankenhaus her kannte.
    »Wir machen alles, was Sie wollen!«, meldete sich plötzlich die Psychologin zu Wort.
    Aber Mattissen ging nicht auf ihre Äußerung ein.
    »Tannenberg, du setzt dich jetzt da vorne an den Tisch und beschäftigst dich weiter mit deinem Schachrätsel.« Er blickte kurz auf seine Armbanduhr. »Du hast noch etwas mehr als eine halbe Stunde Zeit, die Aufgabe zu lösen. Ich unterhalte mich in der Zwischenzeit ein wenig mit deiner Freundin, die ja einen unglaublich interessanten Beruf ausübt.«
    Der Kriminalbeamte begab sich umgehend an einen weißen Campingtisch, der ein paar Meter rechts vom Felsen stand. Auf dem Holzbrett in Turniermaßen war das Schachrätsel mit großen Holzfiguren aufgebaut; daneben stand eine mechanische Schachuhr, die recht laut tickte. Er warf einen abschätzigen Blick auf die mysteriöse Stellung und schüttelte frustriert den Kopf.
    »Wie soll ich denn diese komische Aufgabe hier lösen?« Tannenberg blickte zu seinem alten Schulkameraden. »Sag mir doch wenigstens, wie viel Züge vorgegeben sind und wie das Ende aussehen soll. Bist du wirklich sicher, dass ich mit Schwarz ziehen muss.«
    »Klar! Schwarz passt doch viel besser zu diesem Ambiente hier als Weiß. Oder findest du etwa nicht? Schließlich ist Schwarz die Farbe des Todes. Außerdem ist es doch langweilig, wenn die Schachrätsel immer mit Weiß beginnen.«
    »Dann gib mir doch wenigstens einen Tipp, wie das Ende aussehen soll!«, flehte Tannenberg.
    »Ach Gott, Tanne, wie langweilig wäre doch das Leben, wenn wir über sein Ende Bescheid wüssten.«
    Der Angesprochene reagierte nicht auf die philosophischen Bemerkungen seines ehemaligen Klassenkameraden, sondern wandte sich wieder verbissen seiner Schachaufgabe zu. Vielleicht war die Lösung ja nur dadurch zu finden, dass man zuerst mit Weiß spielte und versuchte, Schwarz matt zu setzen. Vielleicht fand man so einen erfolgreichen Weg, tauchte plötzlich in Tannenbergs Bewusstsein eine Idee auf. Er probierte sofort, diese Inspiration in die Tat umzusetzen und war bereits nach drei Versuchen am Ziel: Ein einfach zu spielendes, zwingendes Matt in vier Zügen – Anfängerübungen. Aber hatte ihn dieses Vorgehen wirklich weitergebracht? Vielleicht gab es ja für Schwarz überhaupt keine Lösung; vielleicht war Schwarz nur ein völlig chancenloser Spielball für seinen übermächtigen Gegner. Plötzlich meinte Tannenberg, die verborgene Dramaturgie dieses Schachrätsels entschlüsseln zu können, die möglicherweise darin bestand, ihn mit einer unlösbaren Aufgabe zu demoralisieren, abzulenken, zu narkotisieren. Aber vielleicht war es ja doch ganz
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