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Pilger des Zorns

Pilger des Zorns

Titel: Pilger des Zorns
Autoren: Uwe Klausner
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Nickerchen gehalten habe?«, fragte er ein wenig spitz und ließ seinen Kopf zu der Bank auf der Steuerbordseite wandern. »Sogar einer wie ich braucht eben hin und wieder mal etwas Ruhe.«
    »Wenn dem so ist, sei sie Euch von Herzen gegönnt!«, antwortete Bruder Hilpert mit demonstrativer Jovialität. »Sind das da Eure Instrumente?«, ergänzte er und schlenderte an der Reling entlang auf Richwyns vermeintlichen Ruheplatz zu. Er tat dies aus Neugierde, ohne böse Absicht. Was eine Sackpfeife war, wusste er, Flöte, Schellenkranz und Tamburin mit eingeschlossen.
    Die Reaktion darauf hätte jedoch ungewöhnlicher nicht ausfallen können. Mit einem Satz, der einem Jagdhund zur Ehre gereicht hätte, befand sich der Spielmann neben ihm, mit einem weiteren, ungleich größeren, auf der Bank, wo er die feingliedrige Hand auf die Tasche aus grobem Sackleinen legte. »Gewiss, das sind sie!«, bekräftigte er und wies mit der Rechten auf die Instrumente, die fein säuberlich aufgereiht neben der Reisetasche lagen. »Darf ich vorstellen: mein ganzer Stolz!«, verkündete er, auf einmal wieder frohgemut wie zuvor. »Und mein ganzes Hab und Gut!«
    »Zumindest, was diesen Punkt betrifft, dürften wir einander ziemlich ähnlich sein.«
    »Das, verehrungswürdiger Bruder, sind wir gewiss. Vielleicht mehr, als Ihr denkt.«
    Bruder Hilpert stutzte, ermahnte sich jedoch sogleich, auf Detektivarbeit zu verzichten. Er wollte und würde sich davon fernhalten, jeglicher Neugier und skurrilen Verhaltensweisen zum Trotz. Dies hier war keiner seiner Fälle. Und sollte auch keiner werden. »Sind das nicht alle, die auf Gottes Erdenboden wandeln?«, fragte er in unverbindlichem Ton.
    »So leid es mir tut, Bruder –«, verfinsterte sich Richwyns Miene auf einen Schlag, »gemäß den Erfahrungen, die ich jüngst gesammelt habe, trifft dies mit Sicherheit nicht zu.«
    »Erfahrungen welcher Art?«
    »Solche, die dazu angetan sind, den Glauben an das Gute im Menschen dauerhaft zu erschüttern.«
    »Und das von jemandem, der so gesellig ist wie Ihr?«
    Über dem Blick des Sackpfeifers ging ein Schleier nieder, und die Lachfalten verschwanden im Nu. »Sagen wir ’ s einmal so: Es ist mir schwergefallen, an der menschlichen Natur nicht irrezuwerden.«
    »Wie das?«
    »Weil mir auf meinem Weg durch die deutschen Lande sämtliche Laster begegnet sind, denen man gemeinhin zu frönen pflegt!«, verschärfte sich Richwyns Ton. »Und das innerhalb kürzester Zeit. Geiz, Hochmut, Neid, Rachsucht, Völlerei und insbesondere –«
    Im Begriff, sich in Rage zu reden, verschlug es Richwyn plötzlich die Sprache, und sein Blick ging an Bruder Hilpert vorbei Richtung Achterdeck. Es war ein alarmierter Blick, ängstlich, besorgt und voller Mitgefühl, und so drehte sich Bruder Hilpert auf dem Absatz um.
    Es war das Mädchen von vorhin, rot geweint, blass und mit fahrigem, auf dem Deck umherirrendem Blick. Es schien nach etwas auf der Suche zu sein. Auf eine Art, die einen glauben machte, dass dieses Etwas wirklich existierte. Doch außer der Ladung gab es nichts, worauf sich ihre Suche hätte konzentrieren können. Beim Anblick der zierlichen, sich wie ein Irrlicht hin und her bewegenden Gestalt lief es Bruder Hilpert eiskalt den Rücken hinunter. Richwyn und dem Kapitän erging es ebenso. Mit dem Unterschied, dass der Sackpfeifer am schnellsten reagierte. Schnell und, wie Bruder Hilpert mit Erstaunen bemerkte, auf ungewöhnliche Art und Weise.
    Während das Mädchen mit erloschenem Blick auf dem Deck umherirrte, summte Richwyn plötzlich eine Melodie. Eine alte Weise, sanft, einschmeichelnd und voller Melancholie. Bruder Hilpert, der Kapitän und der Schiffsjunge, der auf dem Vorderdeck herumhantierte, blieben wie gebannt stehen. So etwas hatten sie nicht erwartet, noch weniger jedoch die Reaktion auf die Melodie.
    Auf einen Schlag, ohne dass sich dies angekündigt hätte, ging mit dem Mädchen eine seltsame Verwandlung vor sich. Bruder Hilpert war wie von Donner gerührt. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte er so etwas noch nicht erlebt.
    Die Verwandlung war vollkommen. So nachhaltig, dass nicht nur er sich erstaunt die Augen rieb. Während der Fahrtwind durch ihr pechschwarzes Haar fuhr, wich die Leichenstarre aus der fragilen Figur. Der Blick des Mädchens hellte sich auf, und die Andeutung eines Lächelns erhellte das bleiche Gesicht. Nein, so etwas hatte Bruder Hilpert wirklich noch nicht erlebt. Aber das Erstaunlichste an der Episode sollte noch
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