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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss
Autoren: Christine Lehmann
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murmelte.
    Unten in der dunklen Küche umschlang mich Hajo mit gierigen Armen. Das Licht der Straßenlaterne fiel ihm seitlich ins Gesicht, tränkte mondseesilbern das eine Au ge, das ich sah, und verwischte den sonst so gemeinen Haken an seinem Mundwinkel. Ich legte den Finger auf die Lippen und nahm ihn bei der Hand. Stufe für Stufe zwerchfellkrampfende Selbstbeherrschung, schlichen wir über knacksendes Holz die Treppe hinauf. Aus dem Bad miefte trocknende Seife, hinter der Tür meiner Mutter lauerte trügerischer Schlaf. Aber Hajo dominierte mit seinem intensiven Geruch nach Heu und Pferd. Ich schob ihn und mich in mein Zimmer. Einen Schlüssel hatte meine Tür nie besessen. Auf der Kommode schimmerte nussholzbraun die Madonna. Sie hielt die Pupillen nachsichtig auf das Jesuskind gesenkt, das uns mit seinen zwei erhobenen Fingerchen töricht segnete. Hajo lächelte infam und langte nach mir.
    Erst jetzt bei Licht fiel mir auf, dass er sich in Schale geworfen hatte wie für einen Heiratsantrag. Die dunkelbraune Hose war aus geripptem Polyester, das Hemd war weiß. Mit so viel DDR-Schick hatte er nicht einmal den General zu seinem Geburtstagsessen beehrt. Ich machte schleunigst das Licht aus.
    Dass wir leise sein mussten, brauchte ich ihm nicht zu sagen. Mehr als ich war er darauf bedacht, dass meine Mutter nicht aus dem Schlaf gerissen wurde und plötz lich in der Tür stand. Mir war nämlich keineswegs so klar, ob ich das wirklich vermeiden wollte. Doch energisch, aber wortlos und leise belehrte Hajo mich, dass man Tabus im Elternhaus ohne Spektakel und Grundsatzdebatten brach. Er streute Sensationen über meinen Körper, so schnell und so viele, erst in die Kniekehlen, dann schon in die Achselhöhlen und nun schon in den Bauchnabel, dass ich mich konzentrieren musste, um dem Schrecken totaler Sinnlichkeit zu begegnen. Er verstand es, das Hirn auszuschalten und den Körper unter sich in Reflexe zu versenken, sodass die Idee verschwand, bestimmen zu wollen oder sich zu wehren. Ich verlor Ort und Zeit unter seinen Händen und zwischen seinen Beinen und trabte und galoppierte in gedankenblanker Lust am Gehorsam. Hajo ignorierte das Abenteuer, das ich mit ihm gesucht hatte, er ließ nicht locker, bis ich nichts mehr fühlte als die explosive Glückseligkeit der Ohnmacht. Er ließ mich nicht ausbrechen und hielt mich so lange fest, bis ich den Verstand vollständig aufgelöst hatte und es mich grauenvoll zerriss.
    Irgendwann schwang kühle Nachtluft sich zum Fens ter herein und ließ uns die Bettdecke suchen.
    »Hast du eigentlich«, wisperte Hajo mit der Zunge in meinem Ohr, »dem alten Gallion eingeredet, er müsse mich zum Chef machen?«
    »Hast du was dagegen?«, raunte ich. »Willst du etwa kneifen?«
    »Ich will, dass du das machst.«
    »O Gott, das ist mir viel zu viel Arbeit. Außerdem hal te ich den ständigen Machtkampf mit einem Hauptbereiter nicht durch, der nicht mal den Hengst beim Sprung von der Leine lässt und der sich zum Moralisten aufwirft, wenn ein Pferd eingeschläfert werden muss.«
    Er zog sich an mich und beleckte mein Schlüsselbein. »Du willst nicht mit mir leben, habe ich recht?«
    »Es würde nicht gutgehen.«
    »Du willst doch nicht etwa auf unseren Bildungsunterschieden herumreiten, eh?«, flüsterte er und fasste mich am Handgelenk. Seine Fingerkuppen fanden und betasteten die Brandblase, die ich auf den Bremsenstich gesetzt hatte.
    »Der Punkt ist der«, wisperte ich, »ich habe in der Stadt schon einen Mann, der sich nicht aufführt wie ein Hengst, wenn ich ihm hin und wieder eine Stute entführe.«
    Es war eine Weile still an meiner Schulter. Dann bewegte sich sein Daumen über den Hubbel an meinem Handgelenk. »Was ist das?«
    »Da hat mich eine Bremse gebissen. Ich habe den Stich mit einer Zigarette behandelt. Sonst befände ich mich jetzt im Krankenhaus. Ich reagiere nämlich ziemlich allergisch auf Bremsengift.«
    Erst spürte ich es nur als kleines Beben, dann hörte ich sein leises Gelächter. »Damit bist du wirklich total unge eignet für die Arbeit mit Pferden. Mich beißen sie stän dig, die Bremsen.«
    Es lag in der Natur seines Berufs, dass es mir nicht gelang, ihn am Frühstückstisch meiner Mutter zu präsentieren, und es entsprach seinem Bedürfnis, keinen Wind um sich zu machen, dass er kurz nach Morgengrauen aufstand, sich die Polyesterhose anzog und leise und ohne Abschied die Treppe hinunterschlich und das Haus verließ.
    Vielleicht, dachte ich, als ich in
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