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Petersburger Erzählungen: Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Petersburger Erzählungen: Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Titel: Petersburger Erzählungen: Fischer Klassik PLUS (German Edition)
Autoren: Nikolai Gogol
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ist. In seiner krankhaften Phantasie sieht er sich als König von Spanien und wundert sich, dass er sich ehedem für einen kleinen Beamten halten konnte. Unter dem Datum des »43. April 2000« notiert Poprischtschin, er sei »inkognito« auf dem Newskij-Prospekt in Erwartung der spanischen Delegierten spazieren gegangen, die ihn nach Madrid begleiten sollten. Stattdessen bringt man ihn in eine Nervenheilanstalt, wo er in bittere Klagen über seine Peiniger ausbricht, die ihn prügeln und ihm kaltes Wasser über den Kopf gießen. Verzweifelt ruft er seine Mutter an: »Mütterchen, rette deinen armen Sohn! Lasse eine Träne auf seinen kranken Kopf fallen! Schau, wie sie ihn quälen!« Unvermittelt bricht der pathetische Ausruf mit einem Schlusssatz von komischer Absurdität ab: »Wisst ihr übrigens, dass der Bei von Algier eine Beule unter der Nase hat?«
    Angeregt von E. T. A. Hoffmanns Kreisleriana (1814/15) und einigen Erzählungen aus Odoevskijs Russkie noči ( Russische Nächte , 1844) beabsichtigte Gogol ursprünglich, Aufzeichnungen eines wahnsinnigen Musikanten zu schreiben. Mit dem Entwurf verknüpfte er die Idee zu einer Komödie mit dem Titel »Vladimir tret’ej stepeni« (Der Vladimirorden dritter Klasse), in der ein Beamter, der sich die Erlangung des Ordens zum Ziel gesetzt hat, wahnsinnig wird und sich einbildet, selbst der Orden zu sein. Gogol geht in seiner Novelle über das romantische Interesse am Künstler und der phantastischen Gestaltung des Wahnsinns hinaus, indem er den Wahnsinn des kleinen Beamten als Auswuchs seiner ›normalen Existenz‹ darstellt.
    Die Geisteskrankheit des Protagonisten Poprischtschin und das an E. T. A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr (1819–1821) erinnernde Motiv der schreibenden Hunde dienen bei Gogol der satirischen Enthüllung einer schlechten Normalität. Der Prozess des Wahnsinnigwerdens ist paradoxerweise zugleich ein Prozess der Bewusstwerdung und Vermenschlichung des kleinen Beamten. Ist der ›normale‹ Poprischtschin mit niedrigen und gemeinen Zügen ausgestattet, so gewinnt er im Zustand des Wahnsinns Einsicht in seine Lage und nimmt tragische menschliche Dimensionen an. Belinskij hat diese Dialektik von Realem und Phantastischem, von Komik und Tragik treffend erfasst, wenn er die Novelle als »häßliche Groteske«, als Karikatur charakterisiert, »in der unendlich viel Poesie und unendlich viel Philosophie enthalten ist«.
Hans Günther
Alle vier Artikel aus: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold (ISBN 978-3-476-04000-8). – © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart (in Lizenz der Kindler Verlag GmbH). [Abweichende Schreibweisen in Kindlers Literatur Lexikon: Nikolaj Vasil’evič Gogol’, Ivan Jakovlevič, Kovalëv, Neva, Podtočina, Puškin, Akakij Akakievič Bašmačkin, Petrovič, Dostoevskij, Nevskij Prospekt, Piskarëv, Pirogov, Popriščin]

Aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur:
    Nikolai Gogol
Geb. 1.4.1809 in Bolschije Sorotschinzy, Bezirk Poltava/Russland;
gest. 4.3.1852 in Moskau
    Das Gut, auf dem Nikolai Gogol in der ukrainischen Provinz aufwuchs, konnte seine Familie nur knapp ernähren, weshalb das Schreiben später auch immer den Lebensunterhalt sichern musste. Zunächst erhielt der junge G. zusammen mit seinem Bruder Privatunterricht, als Zwölfjähriger kam er in das ca. 200 km entfernte Gymnasium von Nischyn, das er sieben Jahre später im Juli 1828 mit dem Abschlusszeugnis verließ. Der Briefkontakt zu Mutter und Schwestern – der Vater war bereits 1825 verstorben – blieb auch intensiv, als G. im Winter desselben Jahres nach St. Petersburg abreiste, um dort sein Glück zu machen. Die Literatur und das Theater faszinierten ihn. Schon der Vater hatte Stücke für das Leibeigenentheater seines Gönners Troščinskij geschrieben, G. erprobte sein Talent in der Theatergruppe des Gymnasiums als Kulissenmaler, Schauspieler und Arrangeur. Ein junger Lehrer begeisterte seine Zöglinge für die damaligen literarischen Moden aus Deutschland, insbesondere für Schiller und die Romantik. Auch der Direktor förderte G., indem er ihn in einen Literaturzirkel aufnahm, wo G. seine literarischen Gehversuche präsentierte. Mit vielen Ermunterungen und mit mehreren Texten im Gepäck reiste G. also in die Hauptstadt, darunter Ganc Kjuchel’garten ( Hans Küchelgarten , 1914),
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