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Pestmond (German Edition)

Pestmond (German Edition)

Titel: Pestmond (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gemacht und wollte nachsehen, ob … alles in Ordnung … ist.«
    Lange weg?
    Hamed nickte, als hätte er die Frage laut ausgesprochen. Vermutlich war es nicht sonderlich schwer, in Andrejs Gesicht zu lesen. »Ich habe eine Stunde gewartet, und als du nicht zurückgekommen bist, da habe ich mich gefragt, ob vielleicht etwas passiert ist.«
    »Eine Stunde?«, wiederholte Andrej. Er hatte nicht einmal annähernd so lange gebraucht, um hier heraufzukommen, und Abu Dun …
    Abu Dun! Andrej fuhr erschrocken herum, auf das Allerschlimmste vorbereitet, aber alles, was er sah, war Abu Dun, der mit geschlossenen Augen und so friedlich dalag, als hätte er sich nur zu einem kurzen Schlummer ausgestreckt. Das schwarze Turbantuch lag noch immer so auf seiner Brust, wie Andrej es dort drapiert hatte. Nirgendwo war ein Skorpion zu sehen, und es hatte auch niemals einen solchen gegeben. Seine Fantasie hatte ihm einen letzten, bösen Streich gespielt, das war alles.
    Dennoch trat er noch einmal an das steinerne Totenbett heran, griff nach Abu Duns Hand und lauschte angestrengt in ihn hinein. Aber da war nichts mehr. Nur noch Leere.
    »Es tut mir leid, wenn ich dich gestört habe«, sagte Hamed hinter ihm.
    Andrej konnte hören, wie viel Mühe es ihn kostete, sich ganz in die Höhe zu stemmen, aber er drehte sich nicht zu ihm um, um ihm zu helfen, sondern lauschte weiter in seinen toten Freund hinein, und für einen kurzen aberwitzigen Moment meinte er, dem Schicksal selbst seinen Willen aufzwingen zu können.
    »Eine Stunde?«, wiederholte er mit brüchiger Stimme.
    »Sogar länger. Ich habe noch eine Weile gebraucht, um heraufzukommen und dich zu finden«, antwortete Hamed, nun ganz eindeutig im Tonfall einer Entschuldigung. »Aber ich bin ein alter Mann.«
    Andrej riss sich von Abu Duns Anblick los und sah zuerst das Loch in der Decke und dann ganz unverhohlen zweifelnd den alten Mann an. Offenbar deutete Hamed auch jetzt wieder seine Miene richtig, denn er schüttelte den Kopf und beantwortete seine nächste Frage, bevor er sie aussprechen konnte.
    »Es gibt noch andere Wege hier herauf«, sagte er und wies auf die Dunkelheit hinter sich.
    Warum hatte er ihm das nicht gesagt, bevor er den halsbrecherischen Aufstieg über die Flanke des gemauerten Berges in Angriff genommen hatte?
    »Du hast geschrien«, fuhr Hamed fort. »Laut. Sonst hätte ich dich vielleicht gar nicht gefunden. Als ich hereingekommen bin, da hast du auf dem Rücken gelegen und etwas gerufen, das ich nicht verstanden habe.« Er hob die Schultern. »Ich wollte dich wecken, aber …«
    »Ich verstehe«, sagte Andrej, als Hamed nicht weitersprach, sondern seinem Blick auswich und unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Es war Andrej peinlich, diesen Mann in Verlegenheit zu bringen, der zumindest von seiner äußerlichen Erscheinung her durchaus sein Großvater hätte sein können und allein dafür schon seinen Respekt verdiente, dass er ihm so selbstlos geholfen hatte.
    Falls es wirklich selbstlos gewesen war. Wer sagte ihm eigentlich, dass es nicht in Wahrheit – ?
    Andrej riss sich zusammen. Nein, das konnte nicht sein. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Das war dumm von mir.«
    Hamed tat ihm nicht den Gefallen, ihm zu widersprechen, sondern ging an ihm vorbei, um Abu Dun zu betrachten. »Er muss dir sehr viel bedeutet haben.«
    »Das hat er.« Mehr, als du dir vorstellen kannst. Mehr, als er selbst bis zu diesem Moment auch nur geahnt hatte. Warum musste man erst einen Menschen verlieren, bevor man verstand, was er einem wirklich bedeutete?
    Hamed machte ein mitfühlendes Gesicht. »Wart ihr nur Freunde oder auch – ?«
    »Nur Freunde«, antwortete Andrej. Seltsam: Jeden anderen hätte er für die bloße Frage und die damit verbundene Unterstellung niedergeschlagen, wenn nicht getötet, aber Hamed nahm er sie nicht einmal übel. Vielleicht weil er spürte, dass weder Dünkel noch Wertung damit verbunden war. Es schien schwer vorstellbar, dass dieser Mann überhaupt jemanden verurteilen konnte.
    »Dann willst du sicher noch eine Weile hierbleiben«, vermutete Hamed.
    »Nein«, sagte Andrej. »Nur noch ein paar Augenblicke. Geh ruhig und warte unten auf mich … nur, wenn deine Einladung noch gilt, natürlich. Ich könnte verstehen, wenn nicht.«
    »Unsinn«, antwortete Hamed, zwar in ärgerlichem Ton, aber auch mit einem verzeihenden Lächeln. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand genauso lautlos wieder in der
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