Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
genauer: ich liebe (hypothetisch) Sacher-Torte über alles, und ein solches Stück Torte steht vor mir. Ich esse es nicht , weil ich (wiederum hypothetisch) Probleme mit meinem Gewicht habe oder weil dieses letzte Stück Torte für den Gast und nicht für mich vorgesehen ist. Es gibt also gute Gründe , warum ich mich trotz meiner Gier nach Sacher-Torte dagegen entscheiden kann. Ich trinke (nicht hypothetisch) wie viele Leute abends gern ein Glas Rotwein. Manchmal ist mir aber nicht danach, oder vor vieler Arbeit vergesse ich das Glas Rotwein einfach. Dann stelle ich fest, dass ich auch ganz gut ohne Rotwein leben kann. Vielleicht habe ich schon ein Glas Rotwein getrunken und entscheide mich dagegen, ein weiteres Glas zu trinken.
    Das bedeutet: Ich habe die Option , das Stück Sacher-Torte zu essen oder auch nicht bzw. ein weiteres Glas Rotwein zu trinken oder auch nicht. Darin besteht ein wichtiger Teil meiner Freiheit. Diese Option habe ich nicht, wenn ich der Torte oder dem Rotwein nicht widerstehen kann. Gleichzeitig ist es aber so, dass – wie auch immer meine Entscheidung ausfällt – diese Entscheidung durch bestimmte innere Motive festgelegt wird. Es ist eben kein Zufall, dass ich das Stück Sacher-Torte vor mir nicht esse, weil ich sonst dem Gast das Stück Torte wegessen würde, und zum Beispiel heute Abend einmal keinen Wein trinke, und sei es nur aus dem Grund, mir zu beweisen, dass ich auch ohne Alkohol einen angenehmen Abend verbringen kann.
    In etwas abstrakteren Worten heißt dies: Es bestehen Optionen z. B. hinsichtlich A oder B, weil physische Faktoren außerhalb von mir und psychische Faktoren in mir sowohl A als auch B zulassen . Die Tatsache jedoch, dass ich schließlich A und nicht B tue, ist in dem Augenblick, in dem ich A tue, determiniert, d. h. alle äußeren und inneren Umstände führen zu A und nicht zu B. In dem Maße, wie bei der Festlegung meine eigenen Motive eine Rolle spielen und nicht purer Zufall, ist es meine Entscheidung. Dies ist übrigens unabhängig davon, ob alle meine Motive und Ziele mir bei der Entscheidung bewusst waren, denn wenn unbewusste und bewusste Motive/Ziele übereinstimmen, d. h. kongruent sind (s. Kapitel 11), dann merke ich das daran, dass ich auch in größerem Abstand meine Entscheidung billige. Gibt es eine solche Kongruenz nicht, dann werde ich das zumindest indirekt an einer zunehmenden Unzufriedenheit oder einem nachlassenden Durchhaltewillen merken.
    Dieser Anschauung liegt die Vorstellung des multi-zentrischen Entscheidungsnetzwerkes im Gehirn zugrunde, wie es in Kapitel 7 geschildert wurde. Dieses Netzwerk trifft entlang den Dimensionen bewusst–unbewusst, emotional–rational und egoistisch–sozial seine Entscheidungen, und diese Aktivität benötigt Zeit. Deshalb ist es auch rein logisch nicht statthaft zu sagen, das Resultat stehe schon fest, bevor das Netzwerk seine Entscheidungsarbeit geleistet habe – wenn dem so wäre, brauchte man kein »Entscheidungsnetzwerk«. Mit anderen Worten: Ich weiß erst dann mit Gewissheit, was ich tun werde, wenn ich es tue. Dabei kann es sich bei dem Netzwerk durchaus um ein deterministisch arbeitendes Netzwerk handeln (ob dies im Gehirn wirklich der Fall ist, wissen wir nicht). Es ist genauso, wie wenn jemand sagt: »Ich kann erst entscheiden, wenn ich bestimmte Fakten kenne – vorher kann ich nicht entscheiden!«.
    Wir sehen, dass Freiheit nicht durch Kausalitätslücken begründbar ist – diese Lücken würden nur zu zufälligem Verhalten führen. Man mag nun einwenden, dass die Verteidiger des traditionellen Willensfreiheitsbegriffs auch gar keine Kausalitätslücken im quantenphysikalischen Sinne meinen; vielmehr sollen meine Handlungen durch moralisch-logische Gründe gelenkt werden und nicht durch Affekte und Gefühle. Ich soll ja die Möglichkeit besitzen, mich über meine »niederen Antriebe«, die mich etwa zu einer verbrecherischen Tat drängen, hinwegzusetzen, indem ich dem Sittengesetz in mir folge!
    Damit geraten wir aber in ein Dilemma: entweder ist das Sittengesetz tief in mir verankert – ich bin seit Kindesbeinen mit bestimmten Moralvorstellungen aufgewachsen, und diese sind mir zur zweiten Natur geworden. Dann handle ich, wenn ich dem Sittengesetz folge, im Einklang mit meinen personalen Motiven, und diese determinieren mich. Oder das Sittengesetz ist nicht in meiner Persönlichkeit verankert, dann kann es auch nicht wirken, denn es hat keinen motivationalen Charakter. Ich werde dann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher