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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Autoren: Gerhard Roth
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Willensfreiheit notwendig sind. Nehmen wir noch einmal an, mein Handeln sei nicht völlig (motiv-)determiniert, sondern lasse Lücken zu. Dies könnte in der Weise geschehen, dass ich ein Verbrechen begehen will, weil mich niedere Motive wie Geldgier, Rachsucht, Neid oder sexuelles Begehren kausal dazu treiben. Im letzten Augenblick überkommt mich aber das Rechtsbewusstsein, und ich trete von der Tat zurück. Dieser Akt darf – wie bereits oben argumentiert – nichts mit meiner bisherigen Persönlichkeit zu tun haben, denn dann unterläge er deren determinierenden Bedingungen und es gäbe keine Kausallücke. Hat das plötzliche Auftauchen des Rechtsbewusstseins tatsächlich nichts mit meiner bisherigen Persönlichkeit zu tun, dann kann mir dies auch nicht zugeschrieben werden, sondern es handelte sich um reinen Zufall oder höhere Fügung. Ebenso kann ich als Straftäter nichts dafür, dass mir das Rechtsbewusstsein nicht im entscheidenden Augenblick gekommen ist! Der Vorsitzende Richter könnte höchstens sagen: Sie haben eben Pech gehabt, dennoch sind Sie schuldig.
    Man kann nun leicht zeigen, dass unser Argument gegen die Rechtsbewusstseins-Lücke auch für alle erdenklichen Lücken in meiner Persönlichkeitsentwicklung gilt. Nehmen wir nämlich an, die Lücke träte nicht direkt vor der Tat auf, sondern in dem Augenblick, in dem ich beginne, die Straftat zu planen. Dann würde wegen der Lücke meine gesamte bisherige Persönlichkeitsentwicklung auf die Planung der Straftat keinen zwingenden Einfluss haben, und die Lücke würde in völlig zufälliger Weise meine weitere Handlung bestimmen, d. h. es würde wiederum vom Zufall abhängen, ob ich die Straftat begehe oder nicht. Dasselbe würde für eine Lücke bei oder gar vor meiner Geburt zutreffen. Es gilt also: Ein Begriff von Willensfreiheit, der auf der Annahme einer Kausallücke in meiner Persönlichkeitsentwicklung beruht, ist selbstwidersprüchlich. Kausallücken führen zu zufälligen Variationen unsers Verhaltens, aber nicht zu willensfreiem Handeln.
    Dies gilt auch für die Annahme mancher Philosophen und Rechtstheoretiker, ein sorgfältiges Abwägen der verschiedenen Aspekte und Konsequenzen der möglichen Tat würde eine solche Kausallücke herstellen. Entweder wäge ich im Rahmen meiner Motive und damit meiner Persönlichkeit ab, dann ist das Abwägen eben durch meine Persönlichkeit bestimmt, oder das Abwägen wird nicht durch sie festgelegt, dann kann es mir auch nicht verantwortlich zugeschrieben werden. Wie wir früher gesehen haben, können wir nur für solche Handlungen moralisch verantwortlich gemacht werden, die aus unserer Persönlichkeit resultieren (das gilt im Übrigen auch für »fahrlässige« Handlungen oder Unterlassungen im Strafrecht; etwas anderes ist allerdings die Frage einer privatrechtlichen Haftung).
    Wenden wir uns jetzt dem ersten Argument zu, dem nämlich, wonach es keine Willensfreiheit geben kann, wenn alles determiniert ist, sei es naturgesetzlich-neurobiologisch oder »rein psychisch« (ich lasse offen, ob es Letzteres überhaupt gibt). Überlegen wir zu diesem Zweck, unter welchen Umständen wir mit Recht einer Person unterstellen, willensfrei zu handeln. Dies ist erst einmal der Fall, wenn diese Person keinem äußeren oder inneren Zwang unterliegt (vorgehaltene Pistole, Waschzwang, hirnorganische Störungen usw.). Zum zweiten unterstellen wir dieser Person die Fähigkeit, ihre Entscheidungen zumindest im Prinzip abwägen zu können, selbst wenn sie zu »schnellen Entschlüssen« neigen sollte. Entsprechend sollten ihre Entscheidungen nicht zwanghaft oder automatisch ablaufen. Zugleich aber dürfen die Entscheidungen der Person nicht völlig unvorhersehbar sein, denn dann würden wir ihr unterstellen, dass sie selbst nicht weiß, was sie will. Wir gehen allgemein davon aus, dass zu einer Person charakteristische Entscheidungen gehören, die einerseits irgendwie »frei« und andererseits irgendwie voraussehbar sind.
    Wir glauben bei einem langjährigen Freund in etwa vorhersagen zu können, wie er sich entscheiden wird. Wäre dies nicht so, dann wäre alles falsch, was wir bisher über die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen gehört haben, denn es geht ja gerade um die überdauernde Existenz bestimmter Motive und Verhaltensmuster. Genau dies begründet die relative Verlässlichkeit sozialen Verhaltens von Menschen, ohne die – wie David Hume zu Recht feststellte – Gesellschaft nicht möglich wäre. Zugleich
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