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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Autoren: Gerhard Roth
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würden wir uns sehr wundern, wenn wir das Verhalten unseres Freundes immer exakt vorhersagen könnten. Wir können das nun einmal nicht, und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Zum ersten ist ein komplexes System niemals genau vorhersagbar, auch wenn wir alles über es wüssten, was man überhaupt wissen kann. Zum zweiten wissen wir über unseren Freund faktisch niemals alles, was man theoretisch wissen könnte. Und drittens spielen uns unsere eigenen Erwartungen und Vorurteile dabei notwendig einen Streich: Wir können niemals ein objektiver Beobachter und damit idealer »Vorhersager« sein.
    Wir kommen zu dem eigentümlichen Schluss, dass für das Zuschreiben von Willensfreiheit eine typische Bandbreite von Vorhersagbarkeit und Nichtvorhersagbarkeit notwendig ist, sonst wird es entweder als zwanghaft oder als völlig zufällig angesehen. Dies geht uns mit unserem eigenen Verhalten auch so: Ich kenne ganz gut meine Dispositionen und Neigungen sowie die Einschränkungen meines Handelns, aber trotzdem erscheint mir mein zukünftiges Handeln nicht bereits in diesem Moment festgelegt. Ich kann mir vorstellen, was ich heute Abend machen werde: Ich kann zuhause bleiben und an einem Aufsatz weiterschreiben oder Musik hören, ich kann heute Abend mit meiner Frau ins Kino gehen, oder wir treffen uns mit Freunden zum Abendessen in einem Restaurant. Das alles ist mir physisch, psychisch, zeitlich und finanziell möglich. Welche von diesen Möglichkeiten ich später auswählen werde, hängt von Dingen ab, die zum Teil jetzt noch gar nicht feststehen. Zum Beispiel kann es sein, dass meine Frau plötzlich keine Lust mehr hat, ins Kino zu gehen, oder unsere Freunde keine Zeit zum Restaurantbesuch haben. Es kann auch sein, dass ich mich im Abgabetermin für den Aufsatz vertan habe und ich folglich heute Abend unbedingt daran arbeiten muss, damit er übermorgen fertig ist. Meine Zukunft erscheint mir einerseits offen, und zum Teil zumindest hängt das, was heute Abend mit mir passieren wird, von mir selbst ab, d. h. von meiner Willensentscheidung (sogar den Abgabetermin könnte ich einfach ignorieren). Ich kann aber meine eigenen Willensentscheidungen nicht schon jetzt vorhersagen, und diejenigen anderer genauso wenig.
    Die Gestaltung des heutigen Abends hängt also von vielen Dingen ab, die ich jetzt noch gar nicht weiß, insbesondere aber von der Tatsache, dass ich die unbewussten Determinanten meiner Willensbildung und die der Willensbildung anderer Personen nicht kenne. Konkret heißt dies: Wenn ich heute Abend um 18 Uhr endlich entscheiden muss, was ich nun im Laufe des Abends tun werde, dann können (und werden) Dinge einen Einfluss haben, derer ich mir nicht bewusst bin. Es mag ein Film laufen, den meine Frau interessant findet, der mich aber irgendwie nicht anspricht. Oder meine Freunde müssen aus Höflichkeit einen Bekannten mit ins Restaurant bringen, der mir irgendwie unsympathisch ist. Vielleicht weiß ich auch gar nicht, ob ich nicht doch dem schlechten Gewissen wegen des früheren Aufsatz-Abgabetermins nachgeben und zuhause bleiben soll.
    Ein philosophischer Inkompatibilist , der die Determiniertheit all unserer Handlungen für unvereinbar mit der Willensfreiheit hält, wird entgegnen, dass die von mir beschworene Offenheit meiner Entscheidung hinsichtlich des Abends allein darauf zurückzuführen ist, dass ich bestimmte Dinge nicht weiß, die man aber im Prinzip wissen kann und die natürlich schon längst festgelegt sind. Durch Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Bindungserfahrung, kindlich-jugendliche Sozialisation und alle späteren Erfahrungen sind mein Verhalten und das aller anderen Personen, die möglicherweise am Ablauf des heutigen Abends beteiligt sind, festgelegt ebenso wie alle Ereignisse, die noch bis heute Abend passieren können (z. B. dass mein Auto kaputt geht). Wenn dies aber so ist, gibt es in Wirklichkeit nichts zu entscheiden, und das Gefühl der Freiheit in mir beruht auf einer Illusion der Unkenntnis. Nur wenn dies nicht so ist, d. h. wenn es einen tatsächlichen Freiraum der Entscheidung gibt, kann es Freiheit geben!
    Ein solches pan-deterministisches Szenario impliziert letztlich, dass das Schicksal aller Dinge und Geschehnisse unseres Universums bereits bei dessen Entstehung festgelegt ist. Ob dies aus Sicht der Naturwissenschaften der Realität entspricht, ist unklar. Wir können zwar in Einzelfällen durch quantenphysikalische Experimente nachweisen, dass es den »objektiven
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