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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber
Autoren: China Miéville
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vergessen, wie ein Garuda im Schmuck seiner unversehrten Schwingen aussah. Er hatte vergessen, wie riesig sie waren und wie majestätisch.
     
    Er verstand fast sofort, was dieser ungewöhnliche Besuch zu bedeuten hatte, auf einer vagen, intuitiven Ebene. Eine düstere Ahnung legte sich ihm schwer auf die Seele.
    Einen Sekundenbruchteil später folgten Zweifel und Schreck und Neugier und ein Schock Fragen.
    »Wer verflucht bist du?«, flüsterte er, und: »Was willst du hier? Wie hast du mich gefunden? Was …« Ihm schwante, dass er die Antworten bereits kannte. Er trat hastig von der Schwelle zurück und ignorierte seine innere Stimme, die mehr zu wissen schien, als ihm lieb war.
    »Grim – neb – Lin …« Der Garuda kämpfte mit seinem Namen. Wie er ihn aussprach, klang es nach einer Dämonenbeschwörung. Isaac forderte ihn mit einer schroffen Bewegung auf, hereinzukommen. Hinter ihm machte er die Tür zu und klemmte den Stuhl wieder unter den Knauf.
    Der Garuda trat in die Mitte des Zimmers, in den Streifen Sonnenlicht, in dem Isaac eben noch gesessen und gearbeitet hatte. Isaac musterte ihn aufmerksam. An Kleidung trug sein unerwarteter Besucher einen staubigen Lendenschurz und sonst nichts. Seine Haut war dunkler als die Yaghareks, das Kopfgefieder lebhafter gefleckt. Er bewegte sich wunderbar ökonomisch; jedem ruckartigen, abgezirkelten Wenden des Kopfes folgte ein längeres Verharren, während dem seine Augen die Umgebung musterten.
    Besonders lange ruhte sein Blick auf Lin, bis Isaac sich räusperte und der Garuda zu ihm aufschaute.
    »Wer bist du?«, fragte Isaac wieder. »Wie hast du mich gefunden?« Was hat er getan?, dachte er, sprach es aber nicht aus. Sag’s mir.
    Sie standen sich – schmaler, sehniger Garuda und fetter, untersetzter Mensch – an entgegengesetzten Enden des Zimmers gegenüber. Die Sonne glänzte auf dem Gefieder des Vogelmenschen. Isaac beobachtete das Spiel des Lichts, er fühlte sich schlagartig müde. Eine Atmosphäre des Unausweichlichen, der Endgültigkeit hatte sich mit dem Besucher eingestellt. Isaac hasste ihn dafür.
    »Ich bin Kar’uchai«, sagte der Garuda. Seine Sprache trug noch schwerer als Yaghareks am Tonfall des Cymek, man musste genau hinhören, um ihn zu verstehen. »Kar’uchai Sukhtu-h’k Vaijhin-khi-khi. Konkretes Individuum Kar’uchai Sehr Sehr Respektiert.«
    Isaac wartete.
    »Wie hast du mich gefunden«, fragte er endlich bitter, zum dritten Mal.
    »Ich komme – von weit her, Grimneb’Lin«, antwortete Kar’uchai. »Ich bin yahj’hur – Jäger. Ich jage seit vielen Tagen. Hier jage ich mit Gold und Papier … Mein Wild hinterlässt eine Spur aus Gerüchten und – Erinnerung.«
    Was hat er getan?
    »Ich komme aus Cymek. Ich jage – seit Cymek.«
    »Ich kann nicht fassen, dass du mich aufgespürt hast«, sagte Isaac gereizt. Er redete schnell, wie um eine Barriere aufzubauen, ihn auszusperren, den Augenblick der Wahrheit. »Wenn dir das gelungen ist, dann schafft es auch die verdammte Miliz, und wenn die es schafft, dann …« Er lief ein paar Mal auf und ab, dann kniete er sich neben Lin auf den Boden, streichelte sie sanft, holte Atem, um weiterzusprechen.
    »Ich komme wegen Gerechtigkeit«, sagte Kar’uchai, und Isaac hatte ein Gefühl, als ob ihm etwas die Kehle zuschnürte.
    »Shankell«, fuhr Kar’uchai fort. »Karges Meer. Myrshock.« Ich weiß von der Reise, dachte Isaac gereizt. Du brauchst mir nichts erzählen. Doch Kar’uchai sprach weiter. »Ich bin der Fährte gefolgt – über mehr als tausend Meilen. Für Gerechtigkeit.«
    Isaac sagte – und sagte es langsam und betont, zornig und bedrückt: »Yagharek ist mein Freund.«
    Kar’uchai ging nicht darauf ein. »Als wir merkten, dass er fort war, nach – dem Gericht – wurde ich ausgewählt zu folgen …«
    »Was willst du?«, fragte Isaac. »Was willst du von ihm? Willst du ihn mitnehmen? Willst du – ja, was? Noch mehr von ihm abschneiden?«
    »Ich bin nicht zu Yagharek gekommen«, antwortete Kar’uchai. »Ich bin zu dir gekommen.«
    Auf Isaacs Gesicht malte sich kummervolle Verständnislosigkeit.
    »Es ist an dir – Gerechtigkeit, die geübt wurde, zu achten.«
    Kar’uchai war unerbittlich. Isaac konnte ihn nicht aufhalten.
    Was hat er getan?
    »Ich habe deinen Namen zum ersten Mal in Myrshock gehört«, sprach Kar’uchai weiter. »Er stand auf einer Liste. Dann hier, in dieser Stadt, er kam wieder und wieder, bis – alle anderen verblassten. Ich jagte. Yagharek und du,
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