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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber
Autoren: China Miéville
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warten, ihm wenigstens eine ungestörte halbe Stunde mit ihr zu gönnen.
    »Eine halbe Stunde, damit ich ihr in Ruhe erklären kann, was passiert ist«, flehte er.
    Sie nickten und suchten sich in der Dunkelheit am Fuß des Hochhauses einen Platz zum Sitzen.
    »Eine halbe Stunde, Isaac«, sagte Lemuel betont. »Dann kommen wir rauf. Verstanden?«
    Und so hatte Isaac allein den langen Aufstieg in Angriff genommen.
     
    Im Haus war es kühl und still. Erst in der siebten Etage hörte er Geräusche – das schläfrige Schwatzen und unaufhörliche Flattern der Dohlen. Dann die nächste Treppe hinauf, vorbei am unbewohnten und einsturzgefährdeten achten Stock und weiter bis unters Dach.
    Er stand vor Lins vertrauter Wohnungstür. Könnte sein, dass sie nicht zu Hause ist, ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht ist sie noch bei diesem Kerl, ihrem Musageten, und arbeitet. Dann muss ich ihr eben einen Zettel hinlegen.
    Er klopfte an die Tür, die nach innen schwang. Sein Atem stockte. Er war mit einem Riesenschritt im Zimmer.
    Schwerer Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen. Isaacs Blick flog durch die kleine Dachkammer, blieb an dem Empfangstableau haften.
    Lucky Gazid saß auf einem von Lins Stühlen am Tisch, als warte er auf eine Mahlzeit, und schaute aus glasigen Augen zu ihm auf. Die schwache Helligkeit, die vom Platz unten heraufgeisterte, zeichnete die Umrisse seines Oberkörpers nach. Gazids Unterarme lagen flach auf dem Tisch. Seine Hände waren zu Krallen erstarrt. Sein Mund stand offen und war mit etwas voll gestopft, das Isaac nicht gleich identifizieren konnte.
    Hemd und Jackett waren dunkel und steif von Blut; Blut hatte auf der Tischplatte Lachen gebildet, die jetzt tief ins Holz eingedrungen waren. Man hatte Gazid die Kehle durchgeschnitten. Die Ränder des klaffenden Schnitts waren dicht besetzt mit hungrigen kleinen Insekten.
    Im ersten Moment hoffte Isaac, es wäre eine Halluzination, einer der perversen Albträume, die neuerdings die Stadt verseuchten, von schmierigem Gierfalterdung aus seinem Unterbewusstsein herausgespült und in den Æther gespien.
    Aber Gazid tat ihm nicht den Gefallen, sich in Luft aufzulösen. Gazid war wirklich, und er war wirklich tot.
    Isaac stierte ihn an. Er entsetzte sich vor Gazids stumm schreiendem Gesicht. Er senkte den Blick auf die Krallenhände. Man hatte Gazid am Tisch sitzend fest gehalten, hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt und ihn niedergehalten, bis er tot war. Dann hatte man ihm etwas in den aufgerissenen Mund gestopft.
    Isaac näherte sich dem Toten mit schleppenden Schritten. Er gab sich einen Ruck, streckte die Hand aus und zog aus dem bläulichen, von getrocknetem Speichel weiß umkrusteten O einen großen Briefumschlag.
    Als er ihn aufrollte, sah er, dass der säuberlich geschriebene Name auf der Vorderseite sein eigener war. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Er riss den Umschlag auf und schob die Hand hinein.
    Einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, erkannte er nicht, was er zwischen den Fingern spürte. Hauchdünn, fast gewichtslos, fühlte es sich an wie brüchiges Pergament, wie trockene Blätter. Dann hielt er es in das dünne graue Licht des mondhellen Zimmers und sah, es waren zwei Khepriflügel.
     
    Aus seiner zugeschnürten Kehle drängte sich ein gequälter Laut. Seine Augen weiteten sich in unaussprechlichem Grauen.
    »O nein«, sagte er mit einer hohen, atemlosen Stimme. »O nein nein nein nein …«
    Die Flügel waren geknickt und gerollt worden, die zarte Struktur zerstört. Mit zitternden Fingern versuchte Isaac, sie zu glätten. Behutsam strich er über die gesplitterte Oberfläche, dabei summte er, ohne es zu merken, einen einzigen Ton, einen bebenden Threnos. Er drehte und wendete den Umschlag, schaute hinein, zog ein einzelnes, auf die Hälfte gefaltetes Blatt heraus.
    Es war ein maschinengeschriebener Brief, im Kopf trug er ein in vier gleiche Felder aufgeteiltes Quadrat als Firmenzeichen. Während er las, begann Isaac wortlos zu schreien.
     
    1. Kopie: Aspic Hole (weitere zu deponieren in Brock Marsh, Salacus Fields)
     
    Mr. Dan dar Grimnebulin,
    Khepri sind unfähig, Laute hervorzubringen, doch ich schließe aus den Chymikalien, die sie ausspie, und dem Zappeln ihrer Käferbeine, dass für Lin die Entfernung dieser nutzlosen Flügelchen eine höchst unangenehme Erfahrung darstellte. Ich bin überzeugt, dass auch ihr Menschenkörper sich zur Wehr gesetzt haben würde, hätten wir die Kerfenhure nicht auf einem Stuhl fest
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