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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench
Autoren: Boris Akunin
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wunderlichen Forderung, mitten ins Meer zu gehen, zu zweifeln, und er ging, und das Wasser gab nach unter ihm, aber es trug, worüber Wassilisk eingedenk des Wandeins auf dem Wasser im Evangelium nicht allzu erstaunt war. Er ging und ging, das Glaubensbekenntnis sprechend, die ganze Nacht hindurch und dann den ganzen Tag; gegen Abend wurde ihm bang, und er fürchtete, in dieser Wasserwüste jenen Ort, den ihm der Finger gewiesen hatte, nicht zu finden. Und da widerfuhr dem Mönch ein zweites Wunder, was im Leben der Heiligen nicht häufig vorkommt.
    Als es dunkelte, erblickte der Mönch in der Ferne ein kleines Feuerfünkchen. Er ging in diese Richtung und erkannte mit der Zeit, dass es eine Kiefer war, die auf der Spitze eines Hügels in Flammen stand, dass der Hügel direkt aus dem Wasser aufragte und sich dahinter noch mehr Land erstreckte, flacher und weiter (das war das heutige Kanaan, die Hauptinsel des Archipels).
    Und Wassilisk ließ sich in einer Höhle unter der verbrannten Kiefer nieder. Er lebte dort einige Zeit in völligem Schweigen und unablässigem inneren Gebet, und ein Jahr darauf erfüllte der Herr sein Versprechen – er rief den reuigen Sünder zu Sich und gab ihm einen Platz neben Seinem Thron. Die Einsiedelei aber, ebenso wie das später in der Nachbarschaft entstandene Kloster, wurde Neu-Ararat genannt zu Ehren des Berges, der allein sich noch über den Wassern erhob und die Gerechten errettete, als »alle Brunnen der großen Urflut aufbrachen und sich die Fenster des Himmels öffneten«.
    Die Vita verschweigt, wie Wassilisks Nachfolger vom Wunder mit dem Feuerfinger erfuhren, wenn der Mönch doch striktes Schweigen bewahrte, aber seien wir nachsichtig mit einer Überlieferung aus alter Zeit. Als Zugeständnis an den Skeptizismus unserer rationalistischen Ära räumen wir sogar ein, dass der heilige Gründer der Einsiedelei vielleicht nicht durch wundersames Wandeln auf dem Wasser zu den Inseln gelangte, sondern mit einem Floß oder, sagen wir, in einem ausgehöhlten Baumstamm – das mag sein. Eine Tatsache hingegen bleibt unbestreitbar, die von vielen Generationen geprüft wurde und bei Bedarf sogar mit Dokumenten belegt werden kann: Keiner der Eremiten, die sich in den unterirdischen Zellen der Wassilisk-Einsiedelei niederließen, musste lange auf Gottes Ruf warten. Nach einem halben oder einem ganzen Jahr, und wenn es lange dauerte, nach eineinhalb Jahren erlangten alle Auserwählten, die nach Rettung trachteten, das Gewünschte, sie ließen ein Häuflein Knochenstaub zurück und fuhren aus dem irdischen Reich auf in das andere, das himmlische Reich. Das lag nicht etwa an der kärglichen Nahrung oder an dem rauen Klima. Es sind viele andere Einsiedeleien bekannt, deren Eremiten größere Taten vollbrachten und ihr Fleisch weit inbrünstiger kreuzigten, und doch dauerte es länger, bis der Herr ihnen verzieh und sie zu sich nahm.
    Daher ging das Gerücht, dass die Wassilisk-Einsiedelei von allen Orten auf Erden Gott am allernächsten gelegen sei, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Himmelreich, weshalb sie auch die Nachbarinsel genannt wurde. Manche, die das Archipel zum ersten Mal besuchten, glaubten, dieser Name rühre von der Nähe zu Kanaan her, wo alle Kirchen waren und der Archimandrit lebte. Doch diese kleine Insel war nicht nahe beim Archimandriten, sondern nahe bei Gott.
    In dieser Einsiedelei lebten immer nur drei besonders würdige Mönche, und für die Mönche in Neu-Ararat gab es keine höhere Ehre, als ihren Erdenweg in den Höhlen der Einsiedelei zu vollenden, auf den Knochen der früheren Gerechten.
    Natürlich rissen sich bei weitem nicht alle Klosterbrüder um den baldigen Aufstieg ins himmlische Reich, denn auch unter den Mönchen gibt es viele, denen das irdische Leben verlockender erscheint als das nachfolgende. Dennoch herrschte niemals Mangel an Freiwilligen, im Gegenteil, es gab eine ganze Reihe von Mönchen, die es sehnsüchtig danach verlangte und unter denen es, wie es in einer Reihe Wartender sein muss, zu Streitereien und Disputen, selbst zu ernsthaften Intrigen kam – so ungeduldig waren einige von ihnen, möglichst bald die schmale Wasserstraße zu überqueren, die Kanaan von der Nachbarinsel trennte.
    Von den drei Eremiten war immer einer der Älteste, und dieser wurde zum Abt geweiht. Nach den Regeln der Einsiedelei war es ihm als Einzigem gestattet, den Mund zu öffnen – und er durfte nur einen Satz sprechen, der aus der Heiligen Schrift stammen musste
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