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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn
Autoren: Boris Akunin
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friedlicherem Charakter nehmen sollen.
    Wir sprachen über die unterschiedlichsten Dinge, es ist an dieser Stelle unmöglich, alles zu erzählen. Ich gebe Ihnen nur einige seiner Ansichten wieder, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind.
    Es ist außerordentlich interessant, Immanuel zuzuhören, viele seiner Gedanken sind sehr ungewöhnlich, manchmal sogar paradox. Er ist ein Mensch, der nicht die geringste Scheinheiligkeit in sich trägt, was für einen Prediger ja durchaus ungewöhnlich ist. Einmal, zum Beispiel, als wir an den Straßenmädchen vorbeikamen, die Abends am Zions-Tor ihrem Gewerbe nachgehen, begann er mit mir ein Gespräch über die körperliche Liebe, obwohl er doch wusste, dass ich Nonne bin. Er sagte: In den Zärtlichkeiten des Fleisches gibt es keine Sünde, im Gegenteil, derjenige begeht eine Sünde gegen Gott, der sein Fleisch mit Enthaltsamkeit austrocknet. Nur soll man dieses Sakrament der Freude nicht entweihen und beschmutzen, indem man es für ein paar Kupfermünzen eintauscht. Das ist dasselbe, wie wenn man der anderen Sakramente spottete – der Sakramente der Geburt oder des Todes. Und dann machte er sich unverzüglich daran, den Jerusalemer Straßenmädchen seine Überzeugung nahe zu bringen, dass sie Gottes Sakrament nicht beschmutzen sollten. Mit Müh und Not konnte ich ihn vor den erbosten Mädchen, die ihn am liebsten verprügelt hätten, in Sicherheit bringen.
    Ein Thema gab es, das ich zu meiden suchte, um ihn nicht erneut auf seine fixe Idee zu bringen: Jesus Christus. Aber es ergab sich, dass wir auf der Via Dolorosa stehen blieben, um Wasser zu trinken, gleich neben einem Standbild des Herrn, der unter dem Gewicht des Kreuzes sich beugte. Immanuel sah die Statue lange an, gleichsam, als wollte er sie sich auf den Leib messen, und dann wandte er sich plötzlich um und sagte: »Weißt du, du bist nicht die Erste, die mich erkannt hat. Es gab jemanden vor dir – der Prokurator.«
    Es geht schon wieder los, seufzte ich im Stillen, aber ich nahm mein Los auf mich und fragte geduldig: »Vor zweitausend Jahren?« »Nein, vor drei Monaten, in Sankt Petersburg.«
    Ich werde versuchen, das, was er mir dann erzählte, möglichst genau wiederzugeben, weil Sie zweifellos verstehen, wer damit gemeint war.
    »Der Prokurator rief mich zu sich und sprach lange mit mir über Gott und die Kirche und alle möglichen anderen Themen.
    Der Prokurator ist ein kluger Mann, und er kann auch sehr gut zuhören. Es war sehr angenehm und interessant, sich mit ihm zu unterhalten. Ich hatte mich ihm nicht zu erkennen gegeben, um ihn nicht zu betrüben – sein ganzes Zimmer (ein ziemlich großes und schönes Zimmer) ist nämlich voller Abbildungen des Gekreuzigten.
    Über die Kirche sagte ich zu ihm, dass sie vollkommen überflüssig ist, und die Popen auch. Jeder muss seinen Weg selber gehen, und als Führer kann ihm dabei jeder gute Mensch dienen, manchmal sogar ein schlechter, so was kommt auch vor. Was für ein Gewerbe soll das denn sein – Pope? Woher soll man wissen, ob so einer ein guter oder ein schlechter Mensch ist? Und warum können nur Männer Popen sein ? Ist eine Frau nicht viel gütiger und selbstloser als ein Mann?
    Über Gott sagte ich zu dem Prokurator, dass man IHN früher, in alten Zeiten, brauchte, um den Menschen Angst vor Gott einzuflößen. Genau wie in einer normalen Familie: Solange das Kind klein ist und Gutes und Schlechtes selbst noch nicht unterscheiden kann, müssen die Eltern Einfluss nehmen, und die Angst vor der Strafe hilft ihnen dabei. Aber im Laufe von zweitausend Jahren hat sich die Menschheit weiterentwickelt, sie fürchtet den Zorn Gottes längst nicht mehr, und deshalb muss man es jetzt anders machen. Heute muss man nicht mehr immerfort nach dem gestrengen allmächtigen Vater Ausschau halten, sondern soll Stattdessen in seine eigene Seele lauschen. Dort nämlich ist Gott, in der Seele des Menschen, und nicht irgendwo im Himmel auf einer Wolke. Ich sagte zu dem Prokurator: Siehst du, ich wandele auf der Erde, schaue mir die Menschen an und sehe, wie viel besser als früher sie geworden sind, so viel vernünftiger, gütiger, barmherziger. Sie sind noch nicht ganz erwachsen, aber auch nicht mehr unvernünftige Kleinkinder, wie zu Zeiten von Moses und Johannes dem Täufer. Wir brauchen heute einen anderen Bund zwischen Gott und den Menschen, einen ganz anderen.
    Plötzlich machte mir der Greis ein Zeichen mit der Hand, ich solle schweigen. Er zog seine buschigen
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