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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn
Autoren: Boris Akunin
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gab.
    Die Schüler ließen Immanuel einen Leuchter, etwas Wasser und Brot und entfernten sich. Kurz darauf aber reute es ihn (wie konnte er hier in seinem Versteck hocken, während seine Scheluchin sich der Gefahr aussetzten?), und er wollte die Höhle verlassen; da zeigte sich jedoch, dass die Schüler den Eingang mit Steinen versperrt hatten.
    Dann ereignete sich eine Art Erdbeben, Immanuel verlor für einen kurzen Moment das Bewusstsein und erwachte von der Stimme eines Mädchens, das immer wieder ein ihm unverständliches Wort rief. »Go-okgock! Go-okgock!« Das war Dummka aus Stroganowka, die ihre Henne suchte.
    »Zuerst dachte ich, ich wäre bei dem Erdbeben umgekommen und befände mich jetzt in der Welt der Toten«, erzählte er weiter. »Denn dort ist alles anders als in der Welt der Lebenden: andere Natur, andere Menschen, andere Sprache, andere Sitten – alles. Ich kam bloß nicht dahinter, ob es nun das Paradies war oder die Hölle. Je nach Jahreszeit schien es mir mal das eine, mal das andere. Zuerst dachte ich – das ist ohne Zweifel das Paradies: so viele Bäume, so viel Wasser, und die Luft so angenehm. Aber manchmal war ich ganz sicher, dass ich in der Hölle gelandet sein musste. Nur in der Hölle kann es so kalt sein, nur dort kann die Erde so weiß und steif sein wie ein Toter. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich mich weder in der Hölle noch im Paradies befand, sondern in einer anderen Welt, dort, wo man nach seinem Tode hinkommt und wo man leben soll wie in seiner alten Welt, also Gottgefälliges tun und das Böse in sich überwinden. Danach stirbt man dann noch mal und kommt wieder in eine andere Welt, dann noch mal und noch mal, und immer so weiter, bis die Seele den Weg, der ihr von Gott vorbestimmt ist, ganz bis zum Ende gegangen ist.«
    Wie Sie sich erinnern werden, habe ich ja in jener Höhle in Stroganowka etwas ganz Ähnliches erlebt. Auch dort hatte die Erde gebebt, und etwas Seltsames war mit der Zeit geschehen. Wie es in dem alten Traktat geschrieben steht, das ich in Ihrer Bibliothek fand: »Außerdem aber gibt es Höhlen, die Besonderen genannt, in denen der Lauf der Zeit außer Kraft gesetzt ist, und ein Mensch, der dort hineingerät, kann für immer und ewig verloren gehen oder in eine andere Zeit geworfen werden und sogar in eine andere Besondere Höhle.«
    Mich interessierten vor allem diese Besonderen Höhlen, in denen die Zeit nicht existiert. Für Immanuel hingegen war dieses übernatürliche Geschehen gar nichts Verwunderliches, und es interessierte ihn auch nicht besonders. »Gott tut viele Wunder«, bemerkte er dazu nebenhin und sprach dann fast die ganze Zeit nur davon, wie ungerecht sein Lieblings-Scheluchin im Evangelium behandelt wird. Dieses Thema beschäftigte ihn weitaus mehr.
    »Judas aus Karioth hat mich nicht verraten! Niemand hat mich verraten! Es war eine List (eine Aventüre, sagte Immanuel), die er sich ausgedacht hat, um mich zu retten. Er ist zum Hohepriester gegangen und hat gesagt: ›Ich zeige Euch, wo sich Jehoschua aus Nazareth verborgen hält, gebt mir die versprochene Belohnung.‹ Aber das hat er ja mit Absicht gemacht, damit sie einen anderen kreuzigten und Ruhe gaben. Und mit vollem Bedacht hat er sich anschließend erhängt, damit niemandem Zweifel an seinem Verrat kamen. Oh, du weißt nicht, wie klug er war, mein Judas! Und so edelmütig! Und jetzt verfluchen ihn alle und spucken auf seine Asche! Das ist mir unerträglich!
    Als dann die Soldaten kamen, hat Judas auf einen meiner Scheluchin gezeigt, entweder auf Didymos oder auf Judas Thaddäus oder auf irgendeinen anderen, und der hat dann gesagt: »Ja, ich bin Jehoschua aus Nazareth«, und die anderen bestätigten es. Wahrscheinlich war es doch Judas Thaddäus, wir kommen vom Gesicht und von der Statur her beide nach unserem Großvater. Haben sie ihn wirklich gekreuzigt? Weißt du, was das ist, eine Kreuzigung? Das ist die schlimmste Hinrichtungsart, die es gibt. Sogar gepfählt zu werden ist weniger qualvoll. Dort fließt das Leben mit dem Blut aus dir heraus, aber hier versuchst du immerzu, dich auf die Zehenspitzen zu stellen, damit du Luft bekommst, die Sonne sticht dir direkt ins Hirn, und der Henker hält dir an seinem Speer einen feuchten Schwamm hin. Du weißt, du darfst nicht trinken, das verlängert nur deine Qualen, aber deine trockenen Lippen strecken sich ganz von selbst danach aus . . . Und diese Tortur dauert viele, viele Stunden, so lange, bis die Wachen und die Menge
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