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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn
Autoren: Boris Akunin
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genug haben. Dann bricht man dir die Beine, damit du dich nicht mehr abstützen kannst, und dann erstickst du . . .«
    Hier begann er zu weinen, und ich musste ihn trösten. Er verrieb sich die Tränen im ganzen Gesicht und sagte immer wieder: »Ich muss zurückkehren, ich muss zu den Meinen gehen. Aber die verdammte Höhle lässt mich nicht! Drei Jahre lang bin ich durch Russland gewandert. Zuerst habe ich gar nicht gewusst, was mit mir geschehen war, und als ich es dann endlich begriffen hatte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Aber vor kurzem hörte ich plötzlich eine Stimme. Das passiert mir manchmal, ich höre eine STIMME, SEINE Stimme. (Immanuel deutete auf die Decke der Höhle.) Die Stimme sagte zu mir: ›Komm zu dir zurück. Man hat den Falschen gekreuzigt, und deshalb haben die Menschen nichts verstanden. Schlimmer noch – sie haben alles falsch verstanden! Seit fast zweitausend Jahren quälen sie einander ohne Unterlass !‹ Da begriff ich: Ich muss zurückkehren und alles wieder gutmachen.
    So ging ich aus Russland fort, ich beeilte mich, um vor dem jüdischen Passahfest hier zu sein. Es gelang mir, die Höhle wieder zu finden. Ich hatte Glück, der Hof war verlassen, niemand wohnte mehr hier. Ich musste sehr lange graben, bis ich den Eingang fand, im Laufe der zweitausend Jahre war er sieben Ellen unter die Erdoberfläche gesunken. In der Nacht auf Freitag stieg ich in die Höhle hinab und blieb dort bis zum Morgen. Aber nichts geschah.
    Am darauf folgenden Donnerstag beschloss ich, den ganzen Weg vom Garten Gethsemane an noch einmal Schritt für Schritt abzuschreiten – vielleicht lag es daran. Wieder nichts. Ich versuchte es noch mehrere Male, aber meine Zeit wollte mich nicht zurückholen, ihre Tore blieben mir verschlossen. Da machte ich mich auf das Land meiner Väter zu durchwandern, zu schauen, zu denken und mit den Menschen zu reden.
    Und vorgestern fiel es mir plötzlich ein. Damals war doch Vollmond gewesen! Zu meiner Zeit feierte man das Passah fest immer am fünfzehnten Tag des Monats, bei Vollmond. Ich war genau in der Nacht vom vierzehnten auf den fünf zehnten Nissan in der Höhle gewesen.«
    Hier besann sich Immanuel plötzlich und rang aufgeregt die Hände: »Ach, Frau, ich habe mich mit dir verplaudert! Was ist mit dem Mond?«
    Er stürzte nach draußen – und ich hinter ihm her.
    Aber der Mond war schon untergegangen; Immanuel stöhnte vor Verdruss.
    »Ich habe ihn verpasst! Jedes Mal dasselbe – immer verplaudere ich mich . . .«
    Von weitem hörte man den Schrei eines Hahns. Es war kurz vor Morgengrauen.
    Zornig sprach Immanuel weiter: »Und auch Kephas hat man verleumdet. Es kann nicht sein, dass er sich dreimal von mir lossagte, bevor der Hahn krähte. Dass Kephas ins Haus des Hohepriesters ging, das glaube ich. Wahrscheinlich wollte er nachprüfen, ob meine Verfolger die Vertauschung bemerkt hatten. Aber dass er ›ging und bitterlich weinte‹, das glaube ich nicht. Kephas soll geweint haben, als er den Hahnenschrei hörte? Was für ein Unsinn!«
    Da fiel es mir endlich wieder ein, und ich fragte: »Wozu ist eigentlich der Hahn da? Nein, nicht der im Evangelium, sondern der andere, der rote? Worin besteht seine Bedeutung?«
    Er machte große Augen, woraus ich den Schluss zog, dass er von der magischen Eigenschaft des roten Hahnes gar nichts wusste, und dass mir diese alten Traktate und unsinnigen Hypothesen bloß unnötige Flausen in den Kopf gesetzt hatten. Also wirklich, was sollte das auch mit diesem dummen Gockel?
    Aber Immanuel schlug sich plötzlich mit den Händen auf den Schenkel und schrie so laut, dass ein paar Nachtvögel mit den Flügeln schlagend von den Bäumen aufflogen: »Der Hahn! Natürlich! Der Hahn!« Und dann fügte er noch etwas auf Hebräisch oder Aramäisch hinzu.
    »Was, was?«, rief ich erschrocken.
    »Natürlich, es hat gar nichts mit dem Vollmond zu tun!«, begann er hastig zu erklären. »Es liegt an dem Hahn! Den habe ich vollkommen vergessen! Deshalb lässt mich die Höhle nicht zurück! Oh, wie ich dir danke, Frau! Aber woher weißt du von dem Hahn?«
    Auf einmal war ich furchtbar aufgeregt – jetzt, jetzt gleich wird das unbegreifliche Geheimnis gelüftet, und womöglich wird mein Bild von der Welt danach ein vollkommen anderes sein. Ich sagte: »Aus einem Buch. Dort stand, wenn bei Tagesanbruch in einer Besonderen Höhle ein roter Hahn kräht, schwebt der Mensch mit seinem Körper und seiner Seele zwischen den Welten und kann in eine
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