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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn
Autoren: Boris Akunin
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grauen Brauen zusammen und sah mir ganz lange ins Gesicht, und dann fragte er mit schriller Stimme: »Du bist es? Du?!« Und er antwortete sich selbst: »Du bist es . . .« Da begriff ich, dass er es erraten hatte.
    »Warum bist du gekommen, um mich zu stören?«, sagte er. »Es ist für mich auch ohne dich schon schwer genug. Du täuschst dich in den Menschen, du verstehst sie nicht. Sie sind immer noch ohne jede Vernunft, sie brauchen einen strengen Hirten, sonst gehen sie zugrunde. Ich schwöre dir, der Mensch ist viel schwächer und erbärmlicher, als du denkst! Schwach und gemein ist er. Du bist zu früh gekommen.«
    Ich wollte ihm erklären, dass ich es mir nicht ausgesucht hatte, herzukommen, aber er glaubte mir nicht. Er fiel auf die Knie nieder, faltete die Hände zusammen und flehte mich an. »Geh wieder dorthin, wo du hergekommen bist. Bei Christus dem Herrn, bitte ich dich . . . nein, beim Himmlischen Vater flehe ich DICH an!« Ich antwortete ihm ganz ehrlich, dass ich ja froh wäre, dorthin zurückzukehren, aber es ginge eben nicht.
    »Ja, ja, ich weiß«, sagte er seufzend.
    Er stand auf, lief im Zimmer auf und ab und sagte dann mit bitterer Stimme und so, als rede er mit sich selbst: »Ach, meine Seele, meine Seele . . . Aber es ist doch nicht um meinetwillen, sondern für das Wohl der anderen . . .« Dann läutete er nach seinen Dienern und gab Befehl, mich fortzubringen. Dabei wollte ich ihm noch so vieles sagen.«
    Da haben Sie die Lösung unseres »Rätsels«, wie Sergej Sergejewitsch Dolinin sagen würde, Eminenz. Aber was fangen wir jetzt damit an, mit dieser Lösung?
    Schon bedauere ich, dies alles aufgeschrieben zu haben. Sie, mit Ihrem unerschrockenen Charakter, werden am Ende den Verbrecher noch entlarven. Aber Sie werden damit nichts erreichen, man wird Sie nur für verrückt erklären.
    Ich flehe Sie an, tun Sie nichts. Der »Prokurator« denkt, er habe seine Hand gegen Gottes Sohn selbst erhoben, und er ist bereit, dafür mit der Unsterblichkeit seiner Seele zu zahlen. Soll er zahlen. Aber nicht Ihnen und mir, sondern IHM.
    Ach, ich sehe, es ist schon Abend! Vor meinem Fenster wird es dunkel. Ich habe den ganzen Tag an diesem Brief geschrieben, dabei habe ich so vieles noch nicht gesagt!
    Bevor ich versuche, Ihnen das Allerschwierigste zu erklären, das, was ich selber nicht verstehe, will ich noch einige von Immanuels Bemerkungen für Sie aufschreiben, die mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.
    Sehr überrascht war ich, als er sagte, er wisse nicht, ob es Gott gebe oder nicht – aber das sei auch gar nicht wichtig. Was soll das, sagte er, dürfte der Mensch dann etwa jede Schweinerei machen, wenn es Gott nicht gäbe? Wir sind doch keine kleinen Kinder, dass wir uns nur in Gegenwart von Erwachsenen anständig benehmen.
    Dann sagte er noch: »Strebe nicht danach, die ganze Welt zu lieben, dafür hat kaum jemand Liebe genug. Wenn du einen hohen Turm errichten möchtest, setz dich zuerst hin und rechne aus, ob deine Mittel ausreichen, den Bau auch zu vollenden. Viele nehmen sich vor, die ganze Welt und alle Menschen zu lieben, und wissen doch nicht, was Liebe überhaupt ist, sie vermögen nicht einmal sich selbst zu lieben. Verwässere deine Liebe nicht, trage sie nicht zu dünn auf, dass sie nicht ist wie ein winziges Flöckchen Butter auf einem großen Pfannkuchen. Liebe deine Verwandten und Freunde, aber dafür aus ganzem Herzen. Und wenn deine Kraft nicht ausreicht, dann liebe wenigstens dich selbst – aber aufrichtig und beständig. Bleibe dir selbst treu. Das heißt, bleibe Gott treu, denn Er ist dein wahres ›Ich‹. Und wenn du dir selber treu bist, wirst du dich schon allein dadurch retten.«
    Aber über das, was mich am meisten interessierte, konnten wir leider nicht bis zu Ende reden. Ich fragte ihn, ob er an ein Leben im Jenseits glaube, ob es nach dem Tod etwas gebe oder nicht. Er wunderte sich: »Woher soll ich das wissen? Wenn ich gestorben bin, dann werde ich es erfahren. Solange man hier lebt, muss man an dieses Leben denken, nicht an das andere. Obwohl es natürlich interessant ist, ein wenig zu träumen. Mir scheint, dass es ein anderes Leben geben muss, dass der Tod des Leibes nicht das Ende des Menschen ist, sondern vielmehr eine neue Geburt.« Hier stockte er und sagte dann: »Ich habe darüber sogar eine eigene Hypothenuse. . .« »Eine Hypothese?«, erriet ich, weil ich ja wusste, dass er die »gebildeten« Wörter des Öfteren verwechselte. »Bitte erzähl mir
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