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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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Nachmittag eine Villa in Saltvik. Eine Frau um die fünfzig starb, während ihr 16-jahriqer Sohn mit Verbrennungen davonkam. Der Vater befand sich nicht im Haus, als der Brand ausbrach. Feuerwehr und Krankenwagen waren schnell vor Ort, und trotz der starken Rauchentwicklung gelang es ihnen, in die lichterloh brennende Villa vorzudringen. Die Frau war bereits tot, als man sie fand, während der 16-jähriqe Sohn noch Lebenszeichen aufwies. Der Junge wurde ins Krankenhaus nach Västervik überführt, wo man bald feststellte, dass die Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren. Der gewaltige Brand drohte, zeitweilig auf die benachbarten Gebäude überzuspringen. Erst gegen 22 Uhr gelang es der Feuerwehr, den Brand zu löschen. Das Gebäude wurde völlig zerstört. Die Brandursache war zunächst unklar. Möglicherweise rührte sie von einem Kurzschluss. Der Vater erlitt einen schweren Schock. Auch er befindet sich im Krankenhaus.
     
    Verwirrt und getroffen blätterte ich weiter. Ich hoffte, Petrs Nachnamen gedruckt zu finden; ich wusste weder, wie man ihn aussprach, noch wie man ihn schrieb. Vielleicht würde ich eine Todesanzeige finden, wenn ich weiterblätterte.
    Doch meine Augen blieben an etwas anderem hängen.
    JUNGE BEI ZUGUNGLÜCK UMGEKOMMEN
    »Mein Gott !« , flüsterte ich. Soweit hatte ich gar nicht gedacht. Ich hatte nicht erwartet, auch eine Nachricht über Pauls Tod zu finden. Über den Tod meines Bruders.
     
    Ein 15-jähriger Junge aus Döderhult starb am Montagnachmittag, nachdem er von einem Schienenbus überfahren worden war. Das Unglück ereignete sich direkt hinter einer Kurve etwa 5Kilometer westlich von Oskarshamn. Der Junge hatte die Signale des Lokomotivführers nicht bemerkt, der es nicht mehr schaffte zu bremsen. Der Junge war nach Aussagen der Polizei auf einem Waldspaziergang, als sich das Unglück ereignete. Er habe die Gegend gut gekannt und gewusst, dass die Bahn in Betrieb war. Der Tod sei unmittelbar eingetreten.
     
    Das war alles. Eine kurze Notiz über den Tod meines Bruders.
    »Mein Gott !« , flüsterte ich noch einmal. Petr und Paul - Milenec und Princi - waren lediglich ein »16-jähriger Sohn« beziehungsweise ein »15-jähriger Junge«. Es gibt so viele Arten, die Wirklichkeit wiederzugeben. Ein Mensch, der gelebt hat, geliebt, geweint und gelacht; ein Mensch, der gelebt hat und gestorben ist; ein ganzes Leben kann mit einem Mal auf einige wenige Zeilen in einer Zeitung reduziert werden, die schnell ihre Aktualität verliert, vergilbt und weggeworfen wird. Oder in einem staubigen und dunklen Archiv verschwindet.
    Ich konnte meinen Bruder und seinen Freund in den kurz gefassten Artikeln nicht wiedererkennen.
    »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast ?« Ich drehte mich hastig um.
    »Entschuldige«, sagte die Frau. »Ich habe dich sicherlich erschreckt. Entschuldige .« Ich murmelte irgendetwas.
    »Und ?« , wiederholte sie. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast ?«
    Ich nickte. Sie nahm ihre Brille ab und sah mich an; ihre Augen hatten eine sonderbar blaue Nuance.
    »Darf ich fragen, wonach du gesucht hast ?« , wollte sie wissen.
    »Ja ... natürlich«, antwortete ich und zeigte auf den Artikel.
    Sie setzte ihre Brille auf und las die Notiz langsam durch.
    »Soso«, sagte sie. »Aber, wieso hast du gerade diesen Artikel gesucht? Da warst doch nicht einmal geboren, als das passierte .«
    »Das war mein Bruder«, erklärte ich. »Er starb in dem Jahr, bevor ich geboren wurde. Siebzehn Monate vor meiner Geburt.«
    »Ach so«, sagte sie mit warmer Stimme. »Das tut mir leid. Du hast ihn niemals kennengelernt .«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wie hieß er ?«
    »Er hieß Paul. Paul Lundberg.«
    »Natürlich«, murmelte sie. »Das hätte ich sehen müssen. Du bist also der Sohn von Sara Lundberg? Das hätte ich sehen müssen. Du ähnelst ihr .«
    »Kennst du meine Mama ?«
    »Ja, ich habe sie zumindest in meiner Jugend gekannt. Wir gingen in dieselbe Schule, Sara und ich. Allerdings ist es schon lange her, dass wir einander begegnet sind. Aber ich erinnere mich, dass es mir Leid tat wegen Sara, als ich die Todesanzeige las. Von deinem Bruder also. Es muss entsetzlich für sie gewesen sein. Und für deinen Papa natürlich auch. Ich war so froh, als ich hörte, dass sie dann wieder einen Sohn bekamen. Und jetzt stehst du hier vor mir. Der andere Sohn.«
    »Ja. «
    »Ich heiße Agneta. Agneta Carlsson. Du musst deine Mutter von mir grüßen .«
    »Das werde ich«, sagte ich.
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