Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse

Titel: Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Autoren: Jan Beinssen
Vom Netzwerk:
immer. Ihm verging der Appetit schon beim Anblick dieser kalkweißen Pappdinger. Er nahm die Tageszeitung mit, bereitete sich an seinem gläsernen Schreibtisch routinemäßig ein Frühstück mit englischer Marmelade und amerikanischer Erdnussbutter. Die Zeitung blätterte er durch, ohne auch nur eine Meldung wahrzunehmen. Seine Brötchen blieben aufgeschnitten und mit Konfitüre bestrichen auf dem Teller liegen.
    Er hob den Blick und hatte es sofort wieder vor sich: Das markante Antlitz von Dürers Mätresse bildete sich im Flurspiegel ab, und Paul bemerkte erstaunt, dass sich der Gesichtsausdruck abermals verändert zu haben schien. Verblüfft stand er auf und näherte sich dem Spiegelbild. Noch deutlicher als in der vergangenen Nacht meinte er, einen zynischen Zug um den Mundwinkel der Mätresse zu erkennen. Und ihre Augen schienen ihn plötzlich zu verhöhnen.
    Paul nahm den Spiegel mit beiden Händen von der Wand und brachte ihn unmittelbar gegenüber der Zeichnung in Position. Er wollte das Phänomen der wechselnden Gesichtsausdrücke gerade aus der Nähe studieren, als ihm noch etwas anderes auffiel: Auch die seltsame Schrift im Hintergrund hatte sich nun verändert. Paul erkannte, dass es sich tatsächlich um lateinische Buchstaben handelte. Die antiquiert verzierte Schreibschrift war als solche erst im Spiegel zu erkennen gewesen und stand jetzt lediglich auf dem Kopf.
    Mit klopfendem Herzen drehte Paul die Zeichnung um und schaute wieder in den Spiegel. Die Buchstaben waren nun klar lesbar: Paul saß einige Minuten lang regungslos da. Er las das kurze lateinische Wort ein ums andere Mal: Scortator. Danach drehte er die Zeichnung behutsam wieder richtig herum. Er sah Dürers Mätresse nachdenklich an und meinte, sie würde ihm nun wissend zulächeln.
    »Schade, dass du eine Lüge bist«, sagte er nach langem Zögern. Dann nahm er das Bild und rollte es zusammen.

36
     
    Paul registrierte beiläufig, dass es taute. Der Schnee und das verkrustete Eis auf den Gehwegen war einer schmutzig braunen, matschigen Masse gewichen, die bei jedem Schritt nass klatschend über seinen Schuhen zusammenschlug. Letzte Nacht war ihm klar geworden, dass drei – oder zählte er Frau Densdorf mit – sogar vier Menschen grundlos gestorben waren und eine seiner engsten Freundinnen für eine sinnlose Tat ins Gefängnis würde gehen müssen.
    Paul ging langsam über den Weinmarkt auf Lenas Wohnhaus zu, während er sich fragte, wie sich Lena, Densdorf und vor allem ihr angeblicher Experte so grundlegend getäuscht haben konnten.
    Zugegeben: Auch Paul war dem Fälscher zunächst auf den Leim gegangen, obwohl er sich lange genug mit Dürers Werken befasst hatte, um dessen Stil nachempfinden und erkennen zu können. Die eigentliche Kunst des Fälschers hatte denn auch eher in der Ablenkung gelegen: Die Mätresse war für einen echten Dürer übertrieben deutlich in ihren Absichten dargestellt worden. Der Fälscher hatte die ganze Szenerie emotional überhöht. Er hatte schlichtweg zu dick aufgetragen – und gerade damit die Erwartungen von laienhaften Betrachtern erfüllt.
    Ja, gestand sich Paul ein, auch er hatte sich blenden lassen, und wenn die Zeichnung nicht mit diesem verräterischen lateinischen Wort versehen worden wäre, würde er sicherlich nicht an der Authentizität der Mätresse zweifeln.
    Paul erreichte Lenas Haus, als bereits drei Polizeifahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht davorstanden.
    Dann kamen sie heraus. Es zerriss ihm fast das Herz, als er sah, dass Lena wie eine gewöhnliche Verbrecherin abgeführt wurde. Da war keine Spur von Rücksichtnahme, nichts Charmantes, mit dem man die Peinlichkeit der Situation hätte überspielen können.
    Die Polizei tat ihre Pflicht. Genau das hatte Paul erwartet. Seinen persönlichen Frust musste er nun hintanstellen. Mitleid war fehl am Platz.
    Paul drängte sich an den Polizisten vorbei und kam Lena für wenige Momente noch einmal sehr nahe. Er blickte in ihre Augen. Das Blau war jetzt vollends eingefroren. Blau wie der Ozean, aber unbewegt und nach innen gewandt. Doch um die schmalen Lippen zuckte wie früher ein leicht versnobtes, wehmütig liebevolles Lächeln. Dann wurde sie in einen der Polizeiwagen geschoben. Lena leistete keinen Widerstand.

37
     
    Nach Lenas Festnahme gab es nicht viel zu tun. Die Staatsanwaltschaft hatte die Fäden jetzt in der Hand. Namentlich Katinka Blohm, die durch die erfolgreiche Festnahme mächtig auftrumpfte, was Paul ihr natürlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher